Spezialpreis der Jury

Filmfestspiele Venedig: Ulrich Seidl und das katholische Paradies

„Paradies: Glaube“ hatte am Lido für Aufsehen gesorgt - Wichtige Preise auch für Andersons „The Master“.

Von Daniel Ebner/APA

Venedig - Egal ob man die Filme von Ulrich Seidl mag oder nicht, kalt lassen sie einen nie. Das ist auch bei „Paradies: Glaube“ so, dem zweiten Teil der „Paradies“-Trilogie, deren erster Teil mit dem Zusatztitel „Liebe“ bereits bei den Filmfestspielen in Cannes lief. Die Szenen der missionarischen Krankenschwester Anna Maria, die sich selbst geißelt, mit dem Kruzifix masturbiert und einen innerehelichen Konflikt mit einem muslimischen Ägypter austrägt, sind zwar über weite Strecken amüsanter, als Seidl das selbst erwartet hätte - aber immer wieder bleibt einem dabei auch das Lachen im Halse stecken.

Dass der Film in Venedig nun - wie schon einst „Hundstage“, ebenfalls mit Maria Hofstätter in einer zentralen Rolle - mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, ist nur konsequent: Über kaum einen Film wurde am Lido so heftig diskutiert, und kaum ein Film vermochte eingefahrene Diskurse über Religion und Glauben stärker aus den Angeln zu heben. Schon „Paradies: Liebe“ über weibliche Sextouristen in Kenia hatte in Cannes für viele Diskussionen gesorgt, „Paradies: Glaube“ kam nun im katholischen Italien jedoch besonders zur Geltung. Die Auszeichnung der Jury gab es nur wenige Tage nach einer Anzeige wegen Blasphemie: ein Triumph für den 59-jährigen Regisseur.

Wie bei „Hundstage“ oder „Import Export“ arbeitete Seidl wieder sowohl mit professionellen Schauspielern (u.a. Hofstätter) als auch mit Laien, mit viel natürlichem Licht und dokumentarischen Stilmitteln, mit zwar genauem Drehbuch, wie er erklärte, aber ohne vorgegebene Dialoge: „Man kann und muss immer mit dem Zufall rechnen.“ Er sei nicht darauf angewiesen, dass geschriebene Szenen in den Film kommen, verlasse sich dagegen vielmehr auf Improvisation und daraus erwachsende Überraschungen. Das führt auch dazu, dass oftmals sehr viel Material zusammenkommt und sich die Arbeit an Filmen oft jahrelang ziehen kann. „Bei mir dauert‘s immer lange“, kommentiert Seidl diesen Zugang lapidar.

Sein kritischer Blick auf die Gesellschaft und die besondere ästhetische Form seiner Filme haben den Drehbuchautor, Regisseur und Produzenten zu einem Aushängeschild für den österreichischen Film gemacht - auch wenn seine Filme nicht zuletzt auch hierzulande oft heftige Reaktionen ernten. Dokumentarfilme wie „Good News“, „Die letzten Männer“ oder „Tierische Liebe“ wurden heiß diskutiert, mit „Models“ bekamen seine Arbeiten schließlich einen fiktionaleren Charakter. Seine Doku „Jesus, du weißt“, die ebenfalls kontrovers aufgenommen wurde, verwandelte Seidl an der Berliner Volksbühne schließlich auch in ein Theaterstück mit dem Titel „Vater unser“.

Die Auseinandersetzung mit Religion kommt indes nicht von ungefähr. Der am 24. November 1952 in Wien geborene und im niederösterreichischen Horn aufgewachsene Seidl hätte eigentlich Priester werden sollen, schlich stattdessen aber an den Wochenenden ins für ihn verbotene Kino: Uschi Glas- und Westernfilme waren erste prägende Filmerfahrungen. Seidl studierte in Wien Publizistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte, mit Jobs als Nachtwächter, Lagerarbeiter und als Medikamenten-Versuchskaninchen finanzierte er sein Studium. Erst mit 26 Jahren entschloss er sich, die Filmakademie zu besuchen, die er nach seinem Debüt „Einsvierzig“ (über einen Liliputaner) und dem umstrittenen Film „Der Ball“ frühzeitig wieder verließ.

Inzwischen hat Seidl selbst schon auf Filmakademien gelehrt und galt als einer der Vorreiter einer verstärkten Suche nach Realismus im europäischen Kino. Sein Leben hat er ganz der Arbeit gewidmet: „Wenn ich keine Filme mache, bereite ich welche vor. Filme machen oder Filme denken ist sozusagen mein Leben.“ Das hielt ihn aber nicht ab, sich auch ein zweites Mal dem Theater zu widmen: Kurz nach den Filmfestspielen von Cannes feierte seine David-Foster-Wallace-Adaption „Böse Buben

Fiese Männer“ bei den Wiener Festwochen Premiere. Inzwischen wächst bereits die Neugier auf seine nächste Filmarbeit: Der Abschluss der „Paradies“-Trilogie, „Hoffnung“, soll 2013 im Wettbewerb der Berlinale laufen - und damit einen wohl einmaligen Festival-Hattrick komplett machen.

Die wichtigsten Auszeichnungen im Überblick:.

- Goldener Löwe für den besten Film: „Pieta“ von Kim Ki-duk

- Spezialpreis der Jury: „Paradies: Glaube“ von Ulrich Seidl

- Silberner Löwe für die beste Regie: Paul Thomas Anderson für „The Master

- Preis für die besten Schauspieler: Philip Seymour Hoffman und Joaquin Phoenix für „The Master“

- Preis für die beste Schauspielerin: Hadas Yaron für „Fill the Void“

- Bestes Drehbuch: Olivier Assayas für „Après Mai“

Die jüngsten Siegerfilme im Überblick:

2012: „Pieta“ von Kim Ki-duk (Südkorea). Der drastische Film zeigt anhand eines brutalen Handlangers das erbarmungslose Abbild einer pervertierten Welt, in der das Geld zum höchsten Gut aufgestiegen ist.

2011: „Faust“ von Aleksander Sokurow (Russland). Das auf Deutsch gedrehte Werk mit dem österreichischen Hauptdarsteller Johannes Zeiler ist eine freie Adaption des Goethe-Dramas.

2010: „Somewhere“ von Sofia Coppola (USA). Der Film erzählt von einem Hollywoodstar, der auf seine elfjährige Tochter aufpassen muss. Durch sie erkennt er, wie leer sein Leben ist.

2009: „Libanon“ von Samuel Maoz (Israel). Der Regisseur verarbeitet seine Erfahrungen als junger Soldat im ersten Libanon-Krieg 1982. Der Film zeigt den Krieg aus der Sicht von vier unerfahrenen Soldaten, die in ihrem Panzer festsitzen.

2008: „The Wrestler“ von Darren Aronofsky (USA). Die Erzählung beleuchtet den Comeback-Versuch eines abgehalfterten Schaukämpfers.

2007: „Gefahr und Begierde“ von Ang Lee (Taiwan

USA). Die Geschichte ist 1939/40 in Schanghai angesiedelt und erzählt von einer Gruppe chinesischer Studenten, die einen politischen Mord planen. Doch die Liebe kommt dazwischen.

2006: „Still Life“ von Zhang Ke Jia (China). Ein Film über Menschen, die beim Bau des riesigen Drei-Schluchten-Staudamms in China ihre Heimat verlieren.

2005: „Brokeback Mountain“ von Ang Lee (USA). Der Film ist ein tragisches, modernes Western-Melodram um zwei homosexuelle Cowboys.

(APA)