Kosovo ab heute souverän: „Die Grenzen am Balkan sind fix“
Der Außenminister des Kosovo fordert, dass Serbien seine Strukturen im Nordkosovo auflöst und den Kosovo als Staat anerkennt. Die TT traf Enver Hoxhaj am Rande der politischen Gespräche in Alpbach.
Bald beginnen so genannte Normalisierungs-Gespräche zwischen dem Kosovo und Serbien. Was ist Ihr Ziel in diesen Gesprächen?
Enver Hoxhaj: Zunächst ist es unglaublich wichtig, dass jene Abkommen umgesetzt werden, die wir zwischen März 2011 und März 2012 in einem technischen Dialog mit Serbien geschlossen haben. Abkommen, die nur am Papier stehen, sind wertlos. Für uns ist zentral, dass Serbien mit der Umsetzung beginnt und dass die Europäische Union den nötigen Druck auf Serbien ausübt. Ohne die Umsetzung der bisherigen Abkommen wird es keine weiteren Treffen geben.
Natürlich sind wir sehr daran interessiert, dass wir mit Serbien ein normales Verhältnis haben – so wie mit allen Ländern der Region. Alle unsere Nachbarstaaten mit Ausnahme Serbiens haben die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt, ebenso die Hälfte der UNO-Mitglieder.
Die Normalisierung der Beziehungen sollte in der Praxis damit beginnen, dass Serbien erstens von dreieinhalb Gemeinden im Nord-Kosovo, wo es Polizei und Paramilitärs finanziert und führt, diese Strukturen abbaut. Zweitens bedeutet die Normalisierung der Beziehungen, dass Serbien die Realität eines unabhängigen Kosovo anerkennen soll und dann auch den Kosovo als Staat anerkennt. Natürlich sind wir bereit, an so einem Prozess teilzunehmen.
Halten Sie es für realistisch, dass Serbien die Unabhängigkeit des Kosovo in naher Zukunft anerkennt?
Hoxhaj: Es gibt zwei verschiedene Ebenen, wie Serbien den Kosovo sieht. Die Bevölkerung von Serbien ist sehr offen. Vor den heurigen Wahlen in Serbien gab es eine Umfrage im Auftrag von Politika, einer ziemlich nationalistisch ausgerichteten Tageszeitung. Die Bürger wurden nach den wichtigsten Themen befragt, und der Kosovo landete nur auf dem siebten Platz. Das bedeutet, dass der Kosovo für die Menschen in Serbien kein Problem und keine offene Frage darstellt.
Bei der serbischen Elite liegt der Fall anders. In den vergangenen fünf Jahren haben serbische Politiker versucht, die Bevölkerung zu manipulieren und von den Hauptproblemen abzulenken. Sie haben die Amerksamkeit stets auf Probleme außerhalb Serbiens gelenkt. Das ist auch einer der Gründe, warum Präsident Boris Tadic und seine Partei die Wahlen verloren haben. Die Menschen waren sehr interessiert an einer wirtschaftlichen Verbesserung, aber die Elite hat stets über den Kosovo, Montenegro und die Republika Srpska in Bosnien gesprochen. Es ist höchste Zeit, dass Serbien sein Glück und sein Schicksal innerhalb seiner Grenzen findet, nicht außerhalb.
Aber nach der Abwahl von Tadic haben Sie es jetzt in Serbien mit einer neuen Führung zu tun, die nationalistischer orientiert ist als die Vorgängerregierung. Kann es da überhaupt Fortschritte geben?
Hoxhaj: Wir waren sehr überrascht, dass zwölf Jahre nach dem Sturz von Slobodan Milosevic wiederum Pro-Milosevic-Kräfte ins Zentrum des politischen Lebens in Serbien zurückkehren und die wichtigsten Positionen besetzen. Aber das war die Entscheidung der serbischen Wähler.
Wir haben versucht zu verstehen, was das inhaltlich für den Kosovo bedeutet – ebenso wie für Montenegro, Bosnien, Mazedonien und Kroatien. Und wir werden versuchen, mit jenen, die in Serbien an der Macht sind, ein normales Verhältnis aufzubauen. Natürlich sind darunter Leute, die eine ziemlich dunkle Vergangenheit haben – einige von ihnen waren Befürworter der Kriege, die Serbien geführt hat, einer war Vizepremier unter Milosevic in einer Zeit, in der im Kosovo im Rahmen von ethnischen Säuberungen und eines versuchten Genozids 15.000 Menschen getötet und eine Million Menschen vertrieben worden sind. Aber wir werden die jetzige Regierung in Serbien nicht an schönen Worten und moderner europäischer Rhetorik messen, sondern an Taten.
Das, was in Serbien passiert, kann keinen direkten Einfluss auf den Kosovo haben. Für uns ist Serbien ein Nachbarstaat, mit dem wir normale Beziehungen haben wollen.
Die serbische Minderheit im Norden des Kosovo will nicht Teil des Kosovo sein, und es gibt die von Ihnen erwähnten Parallelstrukturen mit Unterstützung aus Belgrad. Wie können Sie dort in naher Zukunft Regierungsgewalt ausüben?
Hoxhaj: Was den Norden betrifft, sollten wir zunächst verstehen, was dort in den vergangenen zwölf Jahren passiert ist. Serbien hat im Nordkosovo alles unternommen, damit die UNO-Resolution 1244 nicht umgesetzt wird (darin wird die Einsetzung einer Zivilverwaltung für den Kosovo verfügt, ohne jedoch den territorialen Status zu klären, Anm.). Serbien hat auch nicht zugelassen, dass wir den Plan des UNO-Vermittlers Martti Ahtisaari im Norden umsetzen (der Plan sieht die Bildung staatlicher Institutionen und umfangreiche Minderheitenrechte vor, Anm.). Wir haben dort eine politische Situation, in der die Menschen gar nicht die Möglichkeit gehabt haben, an demokratischen Wahlen und Institutionen teilzuhaben, sondern sie wurden von so genannten Polizei- und Sicherheitsstrukturen und von der organisierten Kriminalität als Geiseln genommen.
Ich glaube nicht, dass die Bürger dort nicht interessiert sind, Teil des Kosovo zu sein, sondern Belgrad hat versucht, den Konflikt im Nordkosovo einzufrieren, um am Ende eine ethnische Teilung des Kosovo zu erzielen. Für uns aber sind die Grenzen auf dem Balkan fix, es gibt auf keinen Fall eine Grenzveränderung. Der Kosovo ist ein multiethnischer Staat und wird das auch bleiben.
Im Norden sollten wir dasselbe tun wie im Rest des Landes: Wir waren imstande, die absolute Mehrheit der Serben im Kosovo in die Institutionen zu integrieren. Innerhalb des Kosovo leben heute 100.000 Serben; sie verwalten sich selbst in sechs Gemeinden. Die serbische Minderheit stellt einen Vizepremier und drei Minister sowie 14 Parlamentsabgeordnete. Das bedeutet, dass der Kosovo vielfältig ist, wie er es immer war. Deswegen ist es höchste Zeit, dass Serbien die Polizei- und Sicherheitsstrukturen im Nordkosovo auflöst, und dann werden wir auch dort den Ahtisaari-Plan umsetzen. Und dieser Prozess sollte in den nächsten Monaten beginnen.
Es hat immer wieder die Idee gegeben, dass Serbien und der Kosovo Gebiete austauschen – der serbisch dominierte Nordkosovo zu Serbien und das albanisch dominierte Presevo-Tal zum Kosovo. Ist das vorbei?
Hoxhaj: Zunächst einmal war der Kosovo in der Geschichte nie ein Teil Serbiens. Er war eine Entität wie alle anderen Republiken des ehemaligen Jugoslawien und hat die gleichen Institutionen wie die anderen Republiken gehabt. Das bedeutet, dass wir stets ein Territorium mit eigenen Grenzen und eigener Gewaltausübung waren.
Zudem war war es nie die Vision der Menschen, die im Kosovo leben, dass der Kosovo ein homogener Staat wird und nur den Albanern gehört, obwohl über 90 Prozent Albaner sind. Auch während der 20 Jahre der Herrschaft von Milosevic war unser Wunsch und fester Glaube, dass der Kosovo ein multiethnischer, heterogener Staat wird. In diesem Sinn sind wir gegen alle Vorschläge zu Grenzveränderungen. Außerdem würde eine Grenzveränderung am Balkan einen Dominoeffekt auslösen. In allen Ländern, in denen es ethnische Minderheiten gibt, würde es zu Gewalt kommen, und das würde die ganze Region um zwanzig Jahre zurückwerfen. Wozu sollte man das tun?
Am 10. September endet die so genannte überwachte Unabhängigkeit, und der Kosovo wird vollständig souverän. Aber die Hälfte der UNO-Mitglieder, darunter so wichtige wie Russland, sind dagegen. Wie wollen Sie das ändern?
Hoxhaj: Das Ende der internationalen Überwachung wird einen neuen Abschnitt unserer Staatsgeschichte eröffnen. Das wird zunächst innerhalb des Kosovo die Wahrnehmung der Menschen von ihrem Land verändern. Wir werden mehr Verantwortung übernehmen, aber wir werden das Land auch regieren können. Das ist ein großes Ereignis und ein Paradigmenwechsel.
Das ist nicht allein eine Erfolgsgeschichte des Kosovo, sondern auch eine der Europäischen Union, der Vereinigten Staaten – und auch der Republik Österreich. Der Kosovo ist auf ähnliche Weise gegründet worden wie die Nachfolgestaaten des Osmanischen Reichs, der Donaumonarchie oder Jugoslawiens. Auch Griechenland wurde seinerzeit als erster unabhängiger Balkanstaat mit Hilfe von Großbritannien und Frankreich gegründet und anfangs von einem bayerischen Fürsten geführt.
Staatsbildungsprozesse auf dem Balkan waren immer auch Projekte der internationalen Gemeinschaft, um Frieden, Stabilität und Sicherheit zu schaffen. Die Region ist sehr klein, und ohne äußere Intervention oder Unterstützung würden wir auch in zwanzig Jahren noch in Gewalt feststecken.
Wir waren in den vergangenen Jahren darauf konzentriert, dass wir die Staatlichkeit innerhalb des Territoriums konsolidieren. Wir haben hart dafür gearbeitet, dass wir von mehr Staaten anerkannt werden, und heutzutage ist der Kosovo ein geopolitisches Faktum, das hier für immer existieren wird. In einem gewissen Zeitraum werden wir nicht nur die EU-Mitgliedschaft schaffen, sondern ich bin mir sicher, dass wir auch die UNO-Mitgliedschaft schaffen werden.
Im Juli 2010 hat der Internationale Gerichtshof ein klares Urteil abgegeben, dass der Kosovo bei der Erklärung seiner Unabhängigkeit im Einklag mit dem internationalen Recht gehandelt hat. Weder Russland noch andere Staaten, die den Kosovo nicht anerkennen, haben einen legalen oder sonst einen Grund, das nicht zu tun.
Was erwarten Sie von der österreichischen Politik in den kommenden Wochen und Monaten, die ja für den Kosovo sehr wichtig sind?
Hoxhaj: Ich muss sagen, dass wir als Volk und als Staat sehr dankbar sind für den Beitrag, den Österreich geleistet hat. Es gibt im Kosovo unglaublich viele Häuser, die mit österreichischen Steuern gebaut worden sind – Schulen, Spitäler... Zudem haben alle österreichischen Regierungen sehr große politische und diplomatische Unterstützung geleistet. Deshalb hat Österreich einen besonderen Platz in den Köpfen und Herzen der Menschen, die im Kosovo leben. Was wir von Österreich jetzt brauchen, sind erstens Investitionen. Wir haben gut ausgebildete junge Leute. Zweitens brauchen wir österreichische Unterstützung bei der Integration in Europa.
Das Gespräch führte
Floo Weißmann