Die Zärtlichkeit in der Verzweiflung
Michael Hanekes in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnetes Drama erzählt von der unerbittlichsten Bedrohung des Menschen. Gegen das Alter und den Tod setzt er auf „Liebe“.
Von Peter Angerer
Innsbruck –Im ersten Bild brechen Feuerwehrmänner und Polizisten eine Wohnungstür auf, als würden sie dahinter Terroristen vermuten. Vorhänge werden aufgezogen, Fenster geöffnet. Im Schlafzimmer liegt Anne (Emmanuelle Riva) friedlich auf ihrem Bett, ihr Gesicht ruht in einem kitschig arrangierten Ornament aus abgeschnittenen Blumenköpfen.
Mit so einem bedrohlichen Vorspiel werden Zuschauer meistens in die Verunsicherung eines Thrillers gelockt, um nach der Auflösung der Intrige in die Ungewissheit des banalen Lebens entlassen zu werden. In den subtilen Thrillern von Michael Haneke gibt es keine Erklärung und wenn doch, wie in „Caché”, ist sie im Kinoparkett nicht zu hören. „Das weiße Band“ begann mit dem heimtückischen Anschlag auf einen Reiter. In einer ausgeklügelten Plansequenz beauftragt ein Pastor (als besorgter Vater) seinen Sohn, aus einem anderen Zimmer einen Stock zu holen, um eine Züchtigung entgegenzunehmen. Die Kamera begleitet den Buben, doch die Tür wird vor der Kamera geschlossen und die Schläge sind nur zu hören, während die Kamera mitfühlend auf dem Türblatt verharrt. In „Das weiße Band“ wurden die Mörder nicht entlarvt, doch die Ursache für das Böse war der selbstgerechte Glaube an das Gute.
In Michael Hanekes neuem Film „Liebe“ („Amour“), mit der Goldenen Palme von Cannes wie zuvor schon „Das weiße Band“ geschmückt, ist die Bedrohung bald ausgemacht. Es ist das Alter, der Tod. Darius Khondji, der zuvor schon für David Fincher „Seven” und „Panic Room” ausgeleuchtet hat, zeigt in einer langen Totale in einem Konzertsaal nur das Publikum in angemessener Abendgarderobe. Ein Klavierabend wird geboten. Nach einem Glas Sekt machen sich Georges (Jean-Louis Trintignant) und Anne diskret auf den Heimweg, immerhin war Alexandre (Alexandre Tharaud) ein ehemaliger Schüler Annes, der Star des Abends.
Am Morgen beschmiert Georges am kleinen Küchentisch vor dem Fenster zum Innenhof eine Brotscheibe mit Marmelade. Anne ist noch im Morgenmantel, die Konversation schleppend. Plötzlich ist Anne abwesend, der Blick starr. Georges dreht den Wasserhahn in der Aufregung vielleicht etwas zu stark auf, um mit einem nassen Küchentuch die Stirn Annes zu kühlen. Da könnte vielleicht ein Notruf angebracht sein. Georges hastet zum Telefon ins Wohnzimmer. Wir denken uns noch, der Wasserhahn nervt aber, möglicherweise denkt das auch Georges, als das Wasser auch schon aufhört zu wüten. Georges eilt zurück und muss sich Vorwürfe wegen des sinnlos laufenden Wasserhahns anhören. Anne kann sich an nichts erinnern und nach der Diagnose Schlaganfall werden beide die Wohnung nicht mehr lebend verlassen. Das ist zumindest Annes innigster Wunsch. Nach einem zweiten Schlaganfall wird sie sich – halbseitig gelähmt – nicht einmal mehr etwas wünschen können.
Wenn ihre in London lebende Tochter Eva (Isabelle Huppert) anreist, wird die Wirtschaftskrise zum Thema. Eva vertraut nur noch dem Immobilienmarkt, womit sie nicht falsch liegt. Sie kann sich erinnern, als Kind mitbekommen zu haben, wie beruhigend es auf sie gewirkt hätte, wenn sich ihre Eltern im Schlafzimmer geliebt hätten. Diese indiskrete Erinnerung berührt Georges eher unangenehm. Was Eva aber eigentlich sagen möchte, sie denke an ein Pflegeheim, da nur professioneller Umgang mit Leid und Gebrechen ihr Gewissen beruhigen kann. „Sie sind ein böser Mensch”, sagt die Pflegehilfe zu Georges, der den infantilen Ton („Jetzt sind wir wieder schön!”) gegenüber seiner Frau nicht ertragen kann. Aber die Kräfte des alten Mannes gehen zu Ende. Er versinkt in Erinnerungen an Anne, am Flügel Beethoven und Schubert spielend. In einem Traum verliert er sich in der nassen Schattenwelt von Andreij Tarkowskij.
Diese Bildkompositionen und Ausflüge in die Filmgeschichte verfolgen auch das Ziel, den Star Jean-Louis Trintignant von seiner Kinogeschichte als Liebhaber („Ein Mann und eine Frau”) oder als Mörder („Der große Irrtum”) zu reinigen und die Zuschauer auf eine der waghalsigsten Szenen der Filmgeschichte vorzubereiten, nämlich die denkbar größte Grausamkeit als selbstloseste Form von Zärtlichkeit und Verzweiflung, als Liebe hinzunehmen. Eine größere Kunst gibt es nicht.