Kannibale mit betenden Händen
Wahrsagerin, Teufels Kutschpferd oder Maultiertöterin: In den vielen Namen der Gottesanbeterin schwingen Neugier, Verehrung, aber auch Verachtung mit. Wenn es sich ergibt, verspeist die Fangheuschrecke auch ihre Verwandtschaft.
Von Helmut Pechlaner
Die Gottesanbeterin ist ein echter Beutegreifer, „Räuber“ können Tiere ja keine sein. Zum Unterschied von anderen Insekten schnappt sie sich ausschließlich fleischliche Nahrung. Was immer sie auch erwischen kann. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, verspeist sie die gesamte Verwandtschaft. Auch ihre eigenen Kinder und die Männchen sogar während der Paarung. Sie frisst und frisst und frisst.
Fangheuschrecken, die kugelrund sind, müssen nicht unbedingt schwangere Weibchen kurz vor der Eiablage sein. Vollgefressen packen sie immer noch zu und lassen nicht einmal ihre Artgenossen ungeschoren. Wer diese Tiere im Terrarium züchten will, kennt das Problem. Das Weibchen deponiert Eipakete und aus diesen schlüpft der Nachwuchs und entwickelt sich in einer unvollständigen Verwandlung bis zum erwachsenen Tier. Nun sollten wohl die Jungtiere laufend nach Größe sortiert und getrennt werden, sonst rotten sich diese Kannibalen gegenseitig aus.
Auch in freier Natur ist die Gottesanbeterin ein typischer Jäger – genauso wie der Mensch und die vielen anderen Beutegreifer aus dem Tierreich. Keiner signalisiert dem Opfer: „Hallo, hier bin ich, ich will dich fressen!“ – Im Gegenteil: Überall regiert die List. Die Gottesanbeterin versteht es, sich perfekt zu maskieren, zu tarnen. Meist verhält sie sich ganz ruhig, sieht aus wie ein Blatt oder ein Ast – und schlägt dann blitzschnell zu, wenn sich ein kleineres Insekt als Opfer nähert und nicht vorsichtig genug ist.
Bei den Fangheuschrecken ist alles außergewöhnlich. Die Vorderbeine sind besonders kräftig ausgebildet und dienen mit ihren scharfen Kanten und Zacken als blitzschnelle Fangwerkzeuge, die wie Sprungfedern losgeschleudert werden. Diese perfekte Zange wirkt für fast jedes Beutetier tödlich.
Gottesanbeterinnen, die nicht gerade ihren Standort wechseln, nehmen automatisch eine Lauerstellung ein: Der Kopf und der langgestreckte Brustteil werden hochgehalten, die Fangbeine gleichsam gefaltet – man kann wirklich an „betende“ Hände denken – daher der lateinische Name „Mantis religiosa“.
Je nach Verbreitungsgebiet und Religion reagiert der Mensch unterschiedlich auf ein so mystisches Lebewesen. Von alters her waren Neugier, Verehrung, aber auch Verachtung gleichermaßen anzutreffen. Die Gattungsbezeichnung „Mantis“ bedeutet schon „die Wahrsagerin“.
In mohammedanischen Ländern wird vermutet, dass die Gottesanbeterinnen ihr Gesicht immer nach Mekka richten. In Amerika nennt man die Tiere „Maultiertöter“ oder auch des „Teufels Kutschpferde“.
Etwa 1800 Arten von Fangheuschrecken gibt es. Sie alle können nur überleben, weil sie auch äußerlich in ihrem Lebensraum so perfekt getarnt sind. Die Vielfalt der Formen und Farben ist schier grenzenlos. Gräser und Laub werden von den Tieren genau so imitiert wie Rinden oder Flechten.
Die ganz Kleinen in der Verwandtschaft werden nur 2,5 Zentimeter groß, die Riesen unter den Fangheuschrecken erreichen immerhin respektable 15 Zentimeter Länge. Die Hauptbeschäftigung dieser Tiere ist das Fressen!
Man kann die heimische Gottesanbeterin überall entdecken. Ihr Lebensraum beschränkt sich nicht mehr nur auf Südeuropa, ihr Lebensraum vergrößert sich nach Norden. In unseren österreichischen Trockengebieten entdecken wir sie in verwilderten Wiesen, die landwirtschaftlich nicht genutzt werden.
Wir Menschen sind ja leider nicht zufrieden, wenn wir andere Lebewesen nicht als nützlich oder schädlich bezeichnen können. Bei den Gottesanbeterinnen scheitern wir jedoch wirklich: Sie fressen „Nützlinge“ genauso wie „Schädlinge“ und greifen damit in das Gleichgewicht der Natur nicht ein.