TT-Reportage aus Beirut

Tragödie am Rand der Hölle

Bis zu 200.000 Syrer sind vor den unvorstellbaren Kriegsgräueln in ihrer Heimat in den benachbarten Libanon geflüchtet. Dort hoffen sie – im Untergrund als Schattenwesen lebend – auf ein Ende des Albtraums.

Aus Beirut von Christian Jentsch

Beirut, Tripoli –Es ist ein Leben im Dunkel. Ein Leben im Schatten der syrischen Tragödie. Ein Leben hinter engen dunklen Gassen im Bauch eines Elendsviertels im Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut – dem palästinensischen Flüchtlingslager Shatila, wo rund 20.000 Menschen unter menschenunwürdigen Verhältnissen auf engstem Raum zusammengepfercht leben müssen. Jenem Lager, in dem vor 30 Jahren christliche Milizionäre mit israelischer Hilfe Tausende Frauen, Kinder und Greise wahllos abgeschlachtet hatten.

Im Niemandsland von Shatila inmitten staatenloser Palästinenser – nur wenige Kilometer vom glitzernden Stadtzentrum Beiruts und nur einen Steinwurf vom Machtzentrum der schiitischen Hisbollah entfernt – hat auch eine syrische Familie aus der Region Idlib Zuflucht gefunden. „Sie schießen auf alles, was sich bewegt. Unsere Städte und Dörfer liegen in Trümmern. Es gibt weder Wasser noch Brot. Wir mussten fliehen, um zu überleben“, erzählt Ayasha (Name geändert) über die Gräueltaten der Armee von Syriens Machthaber Bashar Assad. Die junge Frau lebt zusammen mit ihren Kindern und ihrem Mann in einem dunklen, stickigen Loch im Untergrund Beiruts. Kein Sonnenstrahl erhellt ihre dürftige Bleibe, zwischen Albträumen und der Last der Erinnerung müssen sie nun hier ums Überleben kämpfen. Als Schattenwesen im Vorhof zur Hölle, die einst ihre Heimat war.

Doch eine Rückkehr nach Syrien scheint ausgeschlossen. „Die Situation wird immer schlimmer, die Armee immer aggressiver. Der Krieg hat seinen Höhepunkt noch lange nicht überschritten. Die wahre Tragödie steht uns noch bevor“, heißt es aus Flüchtlingskreisen. Seit Beginn der Kämpfe im März des Vorjahres wurden bisher rund 30.000 Menschen getötet. Besonders in der einstigen Rebellenhochburg Homs wird die Lage immer dramatischer. „In den von der Armee eingekreisten noch unter Kontrolle der Rebellen stehenden Stadtteilen wird die Bevölkerung regelrecht ausgehungert. Und mit Dauerbeschuss zermürbt. Es gibt kein Entkommen“, weiß die ebenfalls geflüchtete Yana.

„Selbst Tiere und Tote werden zu Zielscheiben. Die Soldaten Assads haben sogar den Friedhof unter Beschuss genommen“, erzählt eine andere Syrerin aus Dara im Süden des Landes. Sie wartet sehnsüchtig auf die Ankunft ihrer Söhne, auf ein Überlebenszeichen. Doch viele junge Männer können Syrien nicht verlassen. Sie werden zum Militärdienst eingezogen und vom Regime als Kanonenfutter an vorderster Front in die Schlacht geworfen.

Millionen Syrer, insbesondere Sunniten, sind auf der Flucht vor dem von Alawiten beherrschten Regime Assads. Hunderttausende konnten sich oft nur unter abenteuerlichen Umständen in die Nachbarländer absetzen. Laut dem UNO-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR sind rund 60.000 Syrer in den Libanon geflüchtet. Die tatsächliche Zahl beträgt freilich weit mehr als das Doppelte. Nur wenige Flüchtlinge wollen sich registrieren lassen. Denn die Angst geht um. Die Angst vor dem syrischen Geheimdienst, der auch im Libanon äußerst aktiv sein soll. Und die Angst vor der Schiiten-Miliz Hisbollah, die im Libanon wichtige Posten in der Regierung einnimmt und mit dem Regime von Assad eng verbündet ist. Hisbollah-Milizionäre sollen an der Seite Assads gegen die Rebellen in Syrien kämpfen. Und Flüchtlinge aus Syrien gelten als Sympathisanten der Rebellen. Viele von ihnen stehen auf so genannten Todeslisten. Ein Überschreiten der Grenze bedeutet für sie das sichere Todesurteil.

Nicht nur in den Elendsquartieren Beiruts haben syrische Flüchtlinge Unterschlupf gefunden. Auch in der Region Akkar im Norden des Libanon leben Tausende Bürgerkriegsflüchtlinge. In einer Schule in einem Dorf im Hinterland der Küstenstadt Tripoli – wo sich Alawiten und Sunniten blutige Straßenkämpfe liefern – werden rund 300 syrische Kinder unterrichtet. Ihre Eltern sind mit ihnen vor den Schergen Assads geflüchtet. Von der örtlichen Bevölkerung wurden sie wohlwollend aufgenommen und notdürftig mit Kleidung und Nahrung versorgt. Eine syrische Selbsthilfeorganisation beschafft Nahrungsmittelpakete und Unterkünfte, mit Unterstützung des Hilfswerks Austria. Doch nicht alle haben es geschafft. „Sie haben meinen 20 Jahre alten Sohn getötet. Er ist von der Armee zu den Rebellen übergelaufen. Doch ich beklage mich nicht, er ist für die Revolution gestorben“, erklärt ein Mann mit Tränen in den Augen. Und ergänzt: „Gott wird ihn rächen.“