Und am Ende tauchte der Pinguin wieder auf
Auf Stewart Island, der dritten, unbekannten Insel Neuseelands, ticken die Uhren anders. Die wenigen Einwohner sind gemütlicher und die seltenen Tiere grüßen die Gäste und verabschieden sie ganz artig.
Von Frank Eberhard
Oban –Wie ein Empfangskomitee steht der Zwergpinguin am Hafen von Oban. Nicht besonders gut versteckt, wartet das nachtaktive Tier in einer Felsspalte auf die Dunkelheit. Zwei kleine Jungs entdecken ihn gleich nach ihrer Ankunft auf Stewart Island. „Papa, du musst den Pinguin sehen!“, rufen sie ihrem Vater zu, der noch auf das Gepäck von der Fähre wartet. Die Familie hat eine einstündige Fahrt durch die Foveaux Strait im tiefen Süden des Pazifiks hinter sich. Die Fährroute durch das Gewässer gehört zu den eher raueren auf diesem Planeten. Als Ausgleich für die Strapazen der Fahrt stehen die Chancen gut, von dem kleinen Schiff aus Delfine zu beobachten. Auch hält sich die Zahl der Touristen in Grenzen, die an so vielen Orten des Festlands zuhauf unterwegs sind.
Wobei das Wort Festland in Neuseeland ohnehin relativ zu sehen ist. In diesem Fall ist damit die südliche der beiden Hauptinseln gemeint. Ganz im Süden liegt die 50.000-Einwohner-Stadt Invercargill inmitten grüner Farmlandschaft und sanfter Hügel. Von dort sind es nur 30 Kilometer bis nach Bluff: dem Ort, an dessen Hafen die Personenfähre nach Stewart Island ablegt.
Wer einen Stellplatz für sein Auto sucht und am kleinen Hafen-Parkplatz kein Glück hat, sollte den stets einfachsten Weg in Neuseeland nutzen: Einfach fragen! Das Pächterehepaar der Tankstelle stellt einen Wagen für fünf New Zealand Dollar pro Tag (etwa drei Euro) in eine Garage. Dazu fährt es Reisende zum Hafen und holt sie nach der Rückkehr wieder ab. Am Hafen selbst herrscht freudige Erwartung: Ein kräftiger Mann in seinen Fünfzigern erzählt, dass er sich auf ein paar ruhige Tage auf der Insel freut. Tatsächlich kennen viele Kiwis ihre dritte große Insel nicht. Die polynesischen Einwanderer erreichten die Inseln bereits 500 Jahre vor den weißen Siedlern aus England und gaben auch Stewart Island einen Namen: Rakiura. Das bedeutet so viel wie „glühender Himmel“ und bezieht sich auf die spektakulären Sonnenuntergänge sowie auftretende Polarlichter. Auch der Nationalpark, der rund 90 Prozent der Insel bedeckt, trägt diesen Namen. Fast alle der rund 600 Insulaner leben daher in Oban. Der Ort liegt entlang der Halfmoon Bay verstreut. Bereits wenige hundert Meter landeinwärts des Hafens beherrscht Urwald das Bild, obwohl auch dort noch Menschen leben und asphaltierte Straßen zu finden sind.
Die Kiwis neigen dazu, jeden als „mate“ (Kumpel) oder „bro“ (Bruder) zu bezeichnen. Mit Jugendsprache hat das wenig zu tun. Noch eine Spur gemütlicher als im Rest des Landes geht es auf Stewart Island zu. Der junge Verkäufer an der Kasse des einzigen kleinen Supermarkts hält gerne ein Schwätzchen mit Neuankömmlingen. Das stört niemanden, auch wenn sich dadurch eine Schlange bildet. Wahrscheinlicher ist es, dass einer der Wartenden in das Gespräch einsteigt. „Ein Platz zum Zelten? Versucht es mal eine Bucht weiter – dort ist es richtig schön“, sagt er. Ob das niemanden stört, schließlich ist Wildcampen in Neuseeland nicht gerne gesehen? „Also, mich würde es nicht stören.“ Das gleiche Bild ergibt sich am weißen Sandstrand, von dem der junge Mann gesprochen hat. Die Familie, die in Neoprenanzügen badet, spricht von einem atemberaubenden Platz für eine Campingnacht. Auch die nächsten Anwohner, die den Strand durch einen kleinen Pfad durch den Urwald erreichen, wünschen nach kurzem Fachsimpeln über das Reisen in Neuseeland eine gute Nacht. In der Dunkelheit ist dann nur noch das Rauschen der Wellen und das Schnattern von Pinguinen zu hören.
Das Leben findet größtenteils vor dem Supermarkt und dem benachbarten South Sea Hotel in der Siedlung Oban statt. Auf dem ganze 30 Kilometer umfassenden Straßennetz erreichen die Insulaner dieses kleine Zentrum. Das Hotel mit der rot-weißen Holzfassade ist zugleich Pub und Konzertbühne. Und zwar dann, wenn eine Band vom Balkon aus den ganzen Hafen beschallt. Ruhiger geht es am Morgen zu, wenn vor allem Wanderer sich noch vor der Ankunft der ersten Fähre im Supermarkt mit Vorräten für die Wildnis eindecken. Doch kann die Wildnis auch unerwartet zu ihnen kommen. „Sieh mal, Delfine“, ruft ein Besucher, korrigiert sich aber sofort: „Nein, Orcas!“ Tatsächlich tauchen vier der bis zu neun Meter langen Raubtiere zwischen den Booten im Hafen auf. Das hintere Tier ist etwa so groß wie ein Delfin – ein Junges. Das vordere ist wesentlich größer. Wenn es auftaucht, sind der weiße Fleck hinter dem Auge und die gerade aufragende Rückenflosse zu erkennen. Sie drehen nur eine kurze Runde und sind schon wieder weit weg, bevor irgendjemand seine Spucke wiedererlangt und den Fotoapparat herausgekramt hat.
Der besiedelte Teil der Insel um die Halfmoon Bay mit Oban als Zentrum macht nur eine winzige Fläche im Nordosten aus. Der Rest ist immergrüne Wildnis. Schwer zugänglich, kaum erschlossen. Stewart Island liegt auf dem 47. Breitengrad und damit noch weit weg vom Südpol. Trotzdem kann die Antarktis als direkter Nachbar im Süden Neuseelands Wetter bestimmen. Da nur Wasser die beiden Landmassen trennt, bedeutet Südwind für die Kiwis Kälte. Doch obwohl es im steppenartigen Süden der Südinsel jeden Winter und manchmal sogar im Sommer schneit, ist das Klima auf Stewart Island dank warmer Meeresströmungen milder. Allerdings gibt es viel Regen: an 220 Tagen im Jahr. Wie zum Ausgleich scheint jedoch auch fast jeden Tag die Sonne.
Nur wenige Selbstversorgerhütten stehen denjenigen zur Verfügung, die sich auf die langen Wanderungen machen wollen. So richtig los geht es sechs Kilometer nördlich von Obans Zentrum. Dort endet die Straße und Wanderer betreten den Nationalpark durch eine übergroße Ankerkette hindurch. Sie steht für den Maori-Mythos über Neuseelands Entstehungsgeschichte: Göttersohn Maui bekommt in seinem Kanu (der Südinsel) den Fisch, der zur Nordinsel wird, an den Haken. Stewart Island dient ihm als Ankerstein.
Am meisten begangen wird der Rakiura Track. 36 Kilometer lang und in zwei bis vier Tagen machbar, verbindet er die Küste mit der Paterson Bucht, die weit ins gebirgige Inselinnere reicht. Einige Wanderer haben Glück: Ein Kiwi, Neuseelands Nationalvogel, ist in der Dämmerung neben ihrer Hütte aufgetaucht. Über 20.000 der nachtaktiven und flugunfähigen Vögel mit Eiform und dem charakteristischen langen Schnabel sollen auf der Insel leben. Noch dazu ist die dort vertretene Unterart „Stewart Island Tokoeka“ auch tagsüber zu sehen.
Kehren die Wanderer von dem Rakiura Track oder sogar von einer der über 100 Kilometer langen Rundtouren zurück, erscheint das kleine, grüne Oban wieder wie eine Oase der Zivilisation. Und wer sich abends noch zu einem Spaziergang aufrafft, hat gute Chancen, andere sympathische Vögel zu sehen. Ein Schild an der Hafenstraße warnt Autofahrer vor kreuzenden Gelbaugenpinguinen – den seltensten Pinguinen der Welt. Rund drei Kilometer sind es bis zum Leuchtturm am Ackers Point, einem jener Orte, an dem man sich nicht sicher ist, ob die Welt dort endet oder beginnt. Unübersehbare weiße Hinterlassenschaften und Fischgeruch heißen Besucher dort in einer Kolonie der Zwergpinguine willkommen. Nach Einbruch der Dunkelheit kann einer dieser nur 25 Zentimeter großen Vögel aber auch mal im Hafen von Oban auftauchen. Vielleicht wieder direkt am Fähranleger – ein schöner Abschied von der stillen Insel.