Der Tod darf kein Tabu sein
In ihrem Buch „Mutter, wann stirbst du endlich?“ erzählt Martina Rosenberg über die Pflege ihrer kranken Eltern. Ein Gespräch über das Leben, das Sterben und Gedanken, die man eigentlich nicht haben „darf“.
München –Ihre Mutter erkrankte an Demenz und verlor die Erinnerung, ihr Vater litt an einer Depression und verlor den Lebensmut. Zehn Jahre lang pflegte die Münchner Journalistin Martina Rosenberg ihre schwer kranken Eltern im gemeinsamen Haus. Die 49-Jährige übernahm die Verantwortung, die Organisation, die Elternrolle und zerbrach fast an der Last, die auf ihr bürdete. Irgendwann stellte sie sich die Frage: „Mutter, wann stirbst du endlich?“
Frau Rosenberg, der Titel Ihres Buches lässt aufhorchen. Stammt die Idee dazu vom Verlag?
Martina Rosenberg: Der Titel stammt nicht vom Verlag, sondern von mir. Eine marktschreierische Idee steckt keine dahinter. Ich wollte einen Gedanken ansprechen, den viele pflegende Angehörige in sich tragen, wenn der Mensch, um den sie sich kümmern, selbst nicht mehr leben will. Einen Gedanken, den man „eigentlich nicht denken“ darf.
Ich dachte, dass ich viel Kritik einstecken muss, aber die positive Resonanz hat mich sehr überrascht. Mir schrieben viele Menschen, die genauso empfinden.
Es war nicht nur Ihre Mutter, die an Demenz erkrankte, auch Ihr Vater hatte einen Schlaganfall und litt an Depressionen. Wie schwer war die Situation für Sie?
Rosenberg: Die Demenz meiner Mutter war schwierig genug, doch nicht nur ihre, auch die Persönlichkeit meines Vaters hat sich durch seine Depressionen stark verändert. Die beiden Menschen hatten mit meinen Eltern nichts mehr zu tun. Auch der Umgang miteinander als Ehepaar hatte sich komplett gewandelt. Die Situation war oft unerträglich. Meine Eltern lebten im Erdgeschoß, meine Familie und ich im ersten Stock. Es gab keinerlei Distanz, man hörte jedes Wort, jedes Geräusch.
Ihre eigenen Bedürfnisse blieben auf der Strecke, ein Tinnitus und Schlafprobleme waren Alarmzeichen des Körpers.
Rosenberg: Ich musste Familie – meine Tochter war damals im Grundschulalter –, Haushalt, Beruf unter einen Hut bekommen. Hinzu kamen eine Fülle an bürokratischen Aufgaben. Ich wollte alles so gut wie möglich machen und habe alles im Turboverfahren bewältigt. Dass ich es womöglich nicht schaffe, wollte ich nicht wahrhaben. Ich sah dies als Zeichen der Schwäche. Heute weiß ich, dass es stark ist zu sagen: Ich kann nicht alles schaffen.
Mein großes Glück war, dass ich mit meinem Mann über alles reden konnte. Das war sehr heilsam. Unser Abendgesprächsthema handelte zu 70 bis 80 Prozent von meinen Eltern. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass Beziehungen diesen Druck nicht aushalten.
Ihr Buch ist ein Aufschrei. Sie haben damit eine Debatte über die Pflegesituation losgetreten. Glauben Sie, das Thema häusliche Pflege ist ein Stiefkind der Politik und der Gesellschaft?
Rosenberg: Vor etwa 30 Jahren hat das Modell Hauspflege gut funktioniert, aber es hat sich nicht weiterentwickelt, während sich die Menschheit verändert hat. Demenzerkrankungen steigen, viele Frauen, die nach wie vor den Großteil der Pflege übernehmen, sind berufstätig und müssen arbeiten, um ihre Existenz zu sichern.
Mein Wunsch an die Gesellschaft wäre es, dass Eltern und Kinder mehr über die Themen Alter, Krankheit und Tod sprechen. Die Kinder sollen wissen, was ihre Eltern später wollen, wenn sie alt sind – mit allen Konsequenzen. Es sollte auch das Thema Patientenverfügung angesprochen werden. Ich finde, das offene Gespräch sollte dabei von der älteren Generation initiiert werden.
Von der Politik wünsche ich mir, dass noch mehr Geld in die Pflege investiert wird und attraktivere Wohnmodelle geschaffen werden. Wenn ich weiß, dass es schöne Plätze, etwa Altersresidenzen, Alten-WGs oder wie in den Niederlanden ein eigenes Demenz-Dorf gibt, fällt es beiden Seiten leichter, sich für ein Heim zu entscheiden. Kinder hätten weniger das Gefühl, ihre Eltern abzuschieben.
Ihre Eltern haben sich vor deren Erkrankung gegenseitig die Pflege zuhause versprochen.
Rosenberg: Ja, genau. Aber in meiner Situation hat sich das zur großen Last entwickelt. Meine Mutter war im Laufe ihrer Krankheit fast nicht mehr zu Hause zu pflegen, sie hat eine Rund-um-die-Uhr-Pflege benötigt.
Ihre Mutter war nur noch eine Hülle ihrer selbst und lebte ein Leben ohne Lachen und Freude. Wann kam Ihnen zum ersten Mal der Gedanke, dass es besser für Ihre Mutti wäre zu sterben?
Rosenberg: Meine Mutter hat zu Beginn der Krankheit ständig selbst den Wunsch geäußert zu sterben. Im fortgeschrittenen Stadion war sie nicht einmal mehr in der Lage, einen Löffel zu halten, sie sendete mit ihrem tieftraurigen und freudlosen Gesicht Signale, die zu mir übergingen.
Denken Sie, das Thema Altern, Tod und Sterbehilfe wird tabuisiert?
Rosenberg: Ja. Es geht hierbei nicht um aktive Sterbehilfe, aber darum, das Sterben leichter zu machen. Meine Mutter wurde ständig mit allen möglichen lebensverlängernden Medikamenten versorgt, damit sie stabil ist. Wenn ich das Weglassen der Medikamente angesprochen habe, ist man nur auf großes Entsetzen gestoßen. Angst vor dem Tod und Verdrängen ist ein großes Problem unserer Gesellschaft. Doch der Tod kommt sowieso und was bringen die zwölf Monate, in denen man nicht mehr wirklich lebt? Manchmal ist es besser loszulassen.
Ihre Mutter ist 2010 gestorben, Ihr Vater kurz danach. Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie heute?
Rosenberg: Im Grunde geht es uns sehr gut. Das Buch hat vieles in mir wieder aufgewühlt. Aber es hat eine Debatte losgetreten, und das war es mir wert.
Das Interview führte Nicole Unger