Die tägliche Zerreißprobe
Zu zweit allein mit 25 Kleinkindern oder der Sprung mitten hinein ins Getümmel. Was Kindergarten-Betreuerinnen alles schaffen (müssen).
Von Michaela Spirk-Paulmichl
Zirl –Wenn sich eine komplette Kindergartengruppe auf den Weg ins Freie macht, dann ist es nicht unerheblich, ob gerade Sommer oder Winter ist. Selbst wenn es sich dabei um die Pinguingruppe handelt. Im aktuellen Fall bedeutet das, dass 25 Kinder in Winterstiefel, Skihosen und -jacken schlüpfen, Mützen, Schals und Handschuhe überziehen müssen. Kindergartenpädagogin Veronika Nocker stürzt sich also ins Gefecht, um – am Boden kniend – einem Kind nach dem anderen beim Anziehen zu helfen.
„Marco, da stimmt etwas nicht mit deinem Kragen. Und wo sind deine Handschuhe?“ Sie sucht nach zweiten Schuhen, zieht Jacken zu und Mützen zurecht. Während Kindergarten-Assistentin Christa ein Mädchen lobt – „du hast bei deinen Handschuhen das erste Mal den Daumen richtig erwischt“ – schaut ein Bub mit großen Augen auf seinen klemmenden Reißverschluss: „Tante Vroni!“ Endlich sind alle fertig, doch da haben die Ersten schon wieder ihre Handschuhe ausgezogen. Ihnen ist warm geworden, und auch Vroni wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Einblick in einen ganz gewöhnlichen Tag im Kindergarten Marktplatz in Zirl oder doch der alltägliche Wahnsinn in sechs Gruppen mit jeweils 25 Kindern? Ganz zu schweigen vom Lärmpegel, über den Eltern mitunter sagen: „Um Gottes Willen, wie haltet ihr das aus?“
Würde Barbara Reinhart in ihrer Mäusegruppe ein Lärmmessgerät mit Lichtsignal aufstellen, es würde durchgehend blinken. Davon ist die Kindergartenpädagogin fest überzeugt. In diesem Jahr betreut sie gemeinsam mit einer Helferin 25 Vierjährige. Immerhin. Im vergangenen Jahr waren sie alle noch drei Jahre alt. Will sie mit den Kindern zu einem Spaziergang aufbrechen, müssen unter Umständen drei aufs WC, zwei benötigen dabei ihre Hilfe, eines findet seine Schuhe nicht, eines hat womöglich in die Hose gemacht und ein weiteres muss getröstet werden. Auch beim Turnen, Basteln – Achtung, Schere! – oder beim Bildungsprogramm braucht es fachkundige, geduldige Unterstützung. Obwohl die Betreuerinnen zu zweit sind, gleicht die Arbeit bei so vielen Kindern einer täglichen Zerreißprobe. Dass sie trotzdem gelingt, ist dem großen Engagement zu verdanken.
Doch Barbara Reinhart würde gerne noch viel mehr mit den Kindern unternehmen, noch mehr auf einzelne eingehen. „Hier gehen eindeutig Fördermöglichkeiten verloren.“ Die aktuelle Situation passt ihrer Meinung nach nicht zu schönen Sonntagsreden, in denen nur von neu geschaffenen Einrichtungen und Kinderbetreuungsplätzen die Rede sei, aber nicht von Qualität und schon gar nicht von den Betroffenen selbst, den Kindern.
25 Kinder, das seien einfach zu viele. Da wird es in den schönen Räumen des Gemeindekindergartens eng und können Einzelne schon nervös oder sogar aggressiv werden. Aber selbst, wenn es einige Kinder weniger seien, ändere sich an den Umständen nur wenig. Womöglich gäbe es wegen der gesetzlichen Regelung dann überhaupt nur noch eine Betreuungsperson.
Erschwerend ist außerdem die Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten. Kindergartenleiterin Martha Gritsch: „Heute sind schon die Jüngsten durchgehend in Betreuungseinrichtungen untergebracht.“ Die Kinder müssen funktionieren, unter allen Umständen. Selbst, wenn sie krank sind. Arbeitgeber haben nur wenig Verständnis für Eltern, die bei ihren kranken Kindern bleiben wollen. Die Kleinen bleiben auf der Strecke. Gritsch: „Drei Jahre Kindergarten, das sind drei wichtige Jahre in der Entwicklung. Eine Vorbereitung auf die Schule, aufs Leben. Kommt das Kind dabei zu kurz, kann es später benachteiligt sein.“