Einer, der auszog, um vor unserem Essen zu warnen
Von manchen als Agrar-Rebell gesehen, wird Clemens G. Arvay über TV-Sendungen und seine Bücher gerade einer breiteren Masse bekannt. Warum er die Welt beim Essen aufrütteln will.
Ob EHEC-Erreger, BSE-Rinderseuche, Gammelfleisch oder Pferdefleisch – es scheint, dass der moderne Mensch wiederkehrende Lebensmittelskandale braucht, um seine Aufmerksamkeit auf den Zustand seiner Nahrung zu lenken. Wie sehen Sie das?
Clemens G. Arvay:Solche Skandale lenken das öffentliche Interesse auf Probleme der Lebensmittelindustrie. Diese sind aber immer latent vorhanden. Irreführung der Konsumenten steht in Industrie und Handel an der Tagesordnung, obwohl Transparenz ein wichtiges Marketingschlagwort ist. Es ist ja nicht so, dass alles in Ordnung wäre, wenn bloß kein Pferdefleisch in unserem Essen aufgetaucht wäre. Niemand fragt: „Wie werden eigentlich die Rinder gehalten und geschlachtet, die üblicherweise in dem betroffenen Produkt verarbeitet werden?“
Trotzdem scheint es die Masse der Verbraucher nur kurzfristig zu interessieren, was schiefläuft. Nach jedem Skandal kehrt wieder Ruhe im System ein – bis ein neuer Skandal aufgedeckt wird. Macht Sie das wütend?
Arvay:Dass die Menschen zur Tagesordnung zurückkehren, kann ich auf gewisse Weise nachvollziehen. Der Einkauf im Supermarkt ist bequem, die Werbung gaukelt uns eine heile Welt vor. Das „Schlaraffenland Supermarkt“ lässt man sich nur ungern durch ethische Überlegungen nehmen. Die wenigsten sind sich aber darüber bewusst, unter welchen Bedingungen die meisten Lebensmittel heute wirklich produziert werden.
Was entgeht den Menschen im Supermarkt?
Arvay:Selbst Bio-Konsumenten jagen im Supermarkt oft einer Illusion nach. Die gesamte Produktion für Supermärkte und Diskonter ist hoch industrialisiert und wird von wenigen großen Konzernen gesteuert – egal, ob bio oder konventionell. Außerdem entgeht uns die Vielfalt. Wer einmal eine alte Tomatensorte gegessen hat oder das Fleisch einer alten Hühnerrasse, weiß, was ich meine. Diese kulturellen Schätze der Landwirtschaft wurden von der Industrie praktisch zugrunde gerichtet.
Das mag sein, aber wäre es nicht naiv zu meinen, die Masse an Menschen, die heute z.B. in Europa lebt, sei mit alten Sorten, die gut schmecken, zu versorgen?
Arvay:Die kleinstrukturierte, dezentrale Landwirtschaft liefert höhere Flächenerträge als jede industrielle Monokultur. Außerdem werden in der industriellen Produktion je nach Produktgruppe bis zur Hälfte der Waren aussortiert, oft aus kosmetischen Gründen und obwohl sie genusstauglich wären. Meiner Meinung nach sollte gesunde Ernährung ein Menschenrecht sein. Ich würde sogar so weit gehen und „Bio für alle“ fordern – aber im Sinne einer ehrlichen ökologischen Landwirtschaft, die von Bauern getragen wird. Sie bekommen aktuell kein Ei in einem österreichischen Supermarkt – bio oder konventionell, mit oder ohne AMA-Gütesiegel –,für das die Küken nicht auf einem Fließband auf die Welt kommen und die männlichen Tiere maschinell getötet werden. Diese Entscheidungen treffen nicht die Bauern. Die Produktion ist vertraglich von der Industrie, von einer Handvoll Konzerne, gelenkt. Eine österreichische Bio-Marke wirbt mit „traditionellem Bäckerhandwerk“. Die Fabrik, aus der das Bio-Brot stammt, ist aber so groß, dass die Mitarbeiter darin mit Fahrrädern umherfahren.
Das beantwortet aber noch nicht die Frage, wie es anders gehen könnte ....
Arvay:Wir brauchen eine Demokratisierung und Dezentralisierung des Lebensmittelmarktes, in dem auch die Bauern wieder unabhängiger werden. Dann gäbe es wieder mehr Vielfalt in der Landwirtschaft. Ein Produzent, der einen Supermarkt beliefert, kann nicht einmal bestimmen, welche Hühner er hält. Das schreibt ihm die Industrie in einem Vertrag vor und es sind stets Hochleistungszüchtungen eines internationalen Agrarkonzerns – auch bei Bio. Es gibt alternative Konzepte, die funktionieren und die genug Lebensmittel liefern, um die Menschen zu ernähren. Auf meinen Recherche-Reisen für ein neues Buch, das im März 2013 erscheinen wird, war ich über Monate in Europa unterwegs, habe mir Bauernhöfe und Produktions- und Vermarktungsmodelle angesehen, die funktionieren und völlig unabhängig von der Industrie Lebensmittel bereitstellen. Wir sollten uns mit Alternativen beschäftigen und diese fördern.
Glauben Sie, dass die Masse der Verbraucher dafür reif wäre?
Arvay:Ich habe das Gefühl, dass das Bewusstsein für Lebensmittel immer größer wird. Die Menschen haben es satt, von der Lebensmittelindustrie für dumm verkauft zu werden. Gleichzeitig gibt es ein steigendes Interesse an regionalen Produkten, an ökologisch sowie ethisch vertretbarer Produktion. Die Zeit der Bauernläden und dezentralen Märkte wird zurückkommen.
Was müsste Ihrer Meinung nach zwingend auf Lebensmitteln alles angegeben werden?
Arvay:Man müsste die Werbung reglementieren, die uns völlig falsche Bilder, zum Beispiel von glücklichen Hühnern, vorgaukelt. Ein bekannter Unternehmer und Freund von mir meinte, dass man im Supermarkt Monitore aufstellen müsse, wo man einen Code eingeben könne, um zu sehen, wie das jeweilige Produkt hergestellt wurde. Wenn die Leute z.B. sehen würden, wie Bio-Küken von der Industrie am Fließband vernichtet werden, würden sie anfangen, sich nach Alternativen umzusehen.
Qualitativ hochwertige Lebensmittel kosten aber immer mehr – diese einzukaufen, ist oft ein Privileg der Besserverdienenden. Sind billige und gleichzeitig gute Lebensmittel eine Illusion?
Arvay:Das ist eine Frage der Perspektive: Billige Ware kostet uns teure Gesundheit und zerstört nebenbei die Umwelt. Eine Verkürzung der Warenflusskette kann aber in manchen Fällen sogar dazu führen, dass die Produkte günstiger werden. Wenn wir im Supermarkt kaufen, dann verdient ja vor allem der Handel.
Wie radikal sind Sie in Ihrem Leben mit dem Essverhalten – woher kommt Ihr detektivischer Drang, aufzuspüren?
Arvay:Für Lebensmittel interessiere ich mich, seit ich 13 bin. Wie viele andere Jugendliche lehnte ich damals zum Beispiel Massentierhaltung ab. Später habe ich meine Neigung zum „Lebensmitteldetektiv“ durch ein Studium professionalisiert. Persönlich befinde ich mich auf dem Weg zum Selbstversorger mit Lebensmitteln. Bei Gemüse bin ich es schon zum Großteil.
Essen Sie heute Fleisch?
Arvay:Ich war viele Jahre lang Vegetarier. Seit ich durch meine Recherchen immer mehr Bauern kenne, die vorbildliche Tierhaltung abseits der Industrie betreiben, esse ich gelegentlich Fleisch. Ich will niemandem das Fleisch vom Teller nehmen, es geht mir um ehrliche, artgemäße Tierhaltung.
Manche betiteln Sie als Agrar-Rebell, wurden Sie nach Ihrem Aufdeckungsbuch „Der große Bio-Schmäh – Wie uns die Lebensmittelkonzerne an der Nase herumführen“ mehr gelobt oder getadelt?
Arvay:Die positiven Reaktionen überwiegen, weil die meisten verstehen, dass es mir nicht darum geht, Bio schlechtzumachen.
Wo sehen Sie uns und unser Essen in Zukunft?
Arvay:Wir werden uns bei Lebensmitteln mehr einmischen und das ist gut so.