„Nicht genug gelernt“ - Japans Atom-Flüchtlinge erzählen
Zwei Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima wohnen noch mehr als 100. 000 Japaner in Barackensiedlungen. Andere leben trotz Verbots weiter in der verstrahlten Zone.
Von Lars Nicolaysen
Fukushima - Traurig blickt Mitsue Masukawa auf die Fotos an ihrer Wand. Es sind Bilder von ihrer Schwester und Mutter, Bilder aus glücklichen Tagen. Bekannte haben sie ihr geschenkt, denn Masukawa hat an jenem 11. März 2011 nicht nur ihre Schwester und Mutter in dem mörderischen Tsunami verloren, sondern auch ihr gesamtes Hab und Gut.
Eine Polizeistreife habe durch den Lautsprecher damals gebrüllt: „Ein Riesen-Tsunami kommt, laufen Sie weg!“ Dann fuhr der Streifenwagen weiter auf die Küste zu. „Ich höre noch heute die Stimmen der Männer, die in dem Wagen saßen“, erinnert sich die 60-jährige Witwe mit Tränen in den Augen. 15.880 Menschen kamen damals in den Fluten ums Leben, mehr als 2600 werden noch heute vermisst. Unter den Opfern sind auch jene Polizisten, die Masukawa das Leben retteten.
Rückkehr noch nicht möglich
Heute lebt die frühere Fischverkäuferin zusammen mit 320 anderen Flüchtlingen in einer Containerwohnsiedlung mitten in der 340.000 Einwohner zählenden Hauptstadt der gleichnamigen Provinz Fukushima. Einige ihrer Mitbewohner kommen aus ihrem Heimatort Namie, der in unmittelbarer Nähe zum Atomkraftwerk Fukushima Daiichi liegt, das damals schwer zerstört wurde.
Selbst die, deren Häuser nicht den Fluten zum Opfer fielen, können noch immer nicht zurück, denn die enorme radioaktive Verstrahlung in Folge des GAUs macht eine Rückkehr auch zwei Jahre nach der Katastrophe unmöglich. „Wir machen uns Sorgen, wie lange diese Situation noch andauert“, sagt Masukawa.
Katastrophenhelfer weiterhin vor Ort
Die Katastrophe traf eine ländliche Provinz, in der viele Familien noch nach alter japanischer Tradition mit drei Generationen unter einem Dach lebten. Heute sind sie zerrissen, leben fern der Heimat getrennt in winzigen Behelfsunterkünften.
Leider habe Japan aus früheren Katastrophen noch immer nicht genug gelernt, sagt Seiji Yoshimura. Der 47 Jahre alte Katastrophenhelfer war einer der ersten, die in die schwer verwüstete Hafenstadt Ishinomaki eilten, um den Überlebenden des Tsunami zu helfen. Auch nach zwei Jahren kümmern sich er und seine Mitstreiter aufopferungsvoll um die meist alten Menschen.
„Was die Leute heute besonders benötigen, ist seelische Unterstützung“, sagt Yoshimura. Zwar schicke die Regierung Leute in die Behelfsunterkünfte, aber sie schauten nur, ob die Bewohner noch lebten. „Wichtig ist, dass die Menschen mit jemandem reden können.“
Viele Häuser in Ishinomaki sind abgerissen, manche Gebäude zeugen jedoch noch heute von den schweren Verwüstungen, auch wenn der Schutt drum herum inzwischen beseitigt ist. Vor vielen ehemaligen Geschäften sind die Rollläden heruntergezogen, manche für immer. „Viele haben aufgegeben, andere haben kein Geld, um neu anzufangen“, erzählt ein Anwohner. Andere jedoch haben ihre Geschäfte wieder eröffnet.
Wiederaufbau stockt
„Wir geben nicht auf“, sagt die Betreiberin eines Nudelsuppen-Restaurants und lächelt. Dank der Hilfe von Freiwilligen und der Ersparnisse ihrer Familie konnte sie schon wenige Monate nach dem Tsunami wieder aufmachen. Viele Gäste seien Arbeiter, die für den Wiederaufbau angeheuert worden sind. Doch der kommt nach Meinung vieler zu langsam voran.
Rund 110.000 Menschen leben noch heute in Behelfsunterkünften. Anders als die Jüngeren, von denen manche eine neue Arbeit gefunden hätten und aus den engen Containerwohnungen ausgezogen seien, sei es für Leute in ihrem Alter gar nicht so einfach, noch einmal von vorne zu beginnen, erzählt Frau Masukawa in Fukushima.
Flüchtlinge beklagten in Gesprächen, wie das anfängliche Mitleid derer, die die Opfer in ihren Städten aufnahmen und mit Spenden und Hilfsgütern versorgten, nach zwei Jahren bisweilen in Missgunst und Diskriminierung umschlage. Die Leute zerrissen sich den Mund darüber, dass Flüchtlinge ihre Staatshilfe in Bars oder Spielhallen verprassten. Meckerten, weil die Wartezeiten bei Ärzten, für die die Flüchtlinge nichts zahlen müssen, nun länger seien.
Mitleid abgenommen
„Es stimmt, dass das Mitleid abgenommen hat. Aber auch die Bewohner der Behelfsunterkünfte sind heute weniger dankbar für die Hilfe, sie haben sich daran gewöhnt“, erklärt Miyuki Kawashima. Die alleinerziehende junge Mutter verbrachte mit ihrer Tochter selbst einige Zeit in einer Containerwohnung. Heute betreibt sie ein kleines hübsches Cafe in einer gepflegten Wohngegend der Stadt Fukushima.
Kawashima gehört zu den vielen, die es mit Engagement und Kreativität geschafft haben, wieder halbwegs auf die Beine zu kommen. Was ihr jedoch weiter Sorgen bereite, sei die Verstrahlung. In der Stadt Fukushima gebe es trotz Dekontaminierung weiter so genannte Hotspots mit extrem hohen Werten.
Mit Radioaktivität abgefunden
„Die Verantwortlichen im Erziehungsausschuss der Stadt halten es aber für schlimmer, dass die Kinder sich nicht bewegen, als dass sie radioaktive Stoffe einatmen“, beklagt Kawashima. „Wenn meine Tochter aus Angst vor den Strahlen ihre Schultasche draußen nicht abstellen möchte, denken die anderen Kinder, sie habe nicht mehr alle Tassen im Schrank.“ Sie redeten einfach wie die Erwachsenen, von denen viele sich inzwischen mit der Radioaktivität abgefunden hätten. Schließlich sei die Strahlenbelastung deutlich unter die Grenzwerte gesunken. Sie selbst werde jedoch nicht ewig in Fukushima bleiben, sagt Kawashima.
Doch viele der Flüchtlinge können sich andernorts keine neue Existenz aufbauen, selbst wenn sie es wollten. Denn auch zwei Jahre nach der Atomkatastrophe sind noch immer Zehnttausende von Opfern nicht oder nur unzureichend für den Verlust ihres Eigentums entschädigt worden. (Lars Nicolaysen ist Korrespondent der Deutschen Presse Agentur.)