Umgang Österreichs mit dem Thema: Abkehren und Ausblenden
Opfer oder nicht? Lange ist der „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland im Land kontrovers diskutiert worden. Heute interessieren sich aus Expertensicht nur noch wenige für das Thema.
Wien - 75 Jahre nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland bemängeln Experten nachlassendes Interesse an dem Thema. Heute wachse in Österreich wieder die Tendenz, unter die NS-Zeit einen endgültigen Schlussstrich ziehen zu wollen, sagte der Historiker Oliver Rathkolb von der Universität Wien in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. „Das ist der allgemeine Ablauf, dass man nach zwei, drei Generationen ein Thema nicht mehr als heiß empfindet“, so der Experte.
Großen Anteil daran schreibt der Historiker den Medien zu. „Es gibt eine Übersättigung und mediale Überpräsenz rund um den Zweiten Weltkrieg“, so Rathkolb. Das erreiche in dem Fall in Österreich den gegenteiligen Effekt, nämlich Abkehren und Ausblenden des Themas.
Besonders folgenschwer sei dabei, dass die Hintergründe für den Einmarsch deutscher Truppen ohne Gegenwehr in Vergessenheit geraten. „Ich habe schon das Gefühl, dass viele Entscheidungsträger die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert verdrängt haben“, sagte Rathkolb. Geschichte dürfe aber in den Parlamenten nicht als „unnötiges Datenfaktum“ abgelegt werden.
Kein allgemeines Thema mehr
„Der 12. März ist nicht über Nacht hereingebrochen“, warnte Rathkolb. Heute sei die Lage in einigen Ländern Europas mit schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen ähnlich wie vor dem Zweiten Weltkrieg: „Geschichte wiederholt sich nicht, aber es gibt natürlich Mengenlagen, die besonders problematisch sind.“ Man dürfe Rechtsradikalismus keinen Nährboden geben.
Ein weiterer Grund für das Vergessen sei, dass inzwischen viele Zeitzeugen gestorben sind. „Das Jahr 1938 beginnt zunehmend im Dunkel der Geschichte zu verschwinden“, sagte Rathkolb. Während die NS-Zeit in Schulen regelmäßig allgemein Thema ist, setzten sich die meisten Menschen zu wenig mit der eigenen Familiengeschichte auseinander: „Da haben wir noch einen Weg vor uns.“ Es sei aber wichtig, die nicht immer angenehmen Lebensgeschichten des eigenen Vaters oder Großvaters zu akzeptieren. (Das Gespräch führte Sandra Walder von der Deutschen Presse Agentur.)