Ein Leben für den Moment
Ein Leben mit Parkinson, das ist ein Leben zwischen „on“ und „off“: Was das heißt, zeigen eineinhalb kostbare Stunden mit Charly Ortner und seiner Krankheit der hundert Gesichter.
Von Michaela Spirk-Paulmichl
Aldrans –„Bitte hier entlang, die Wohnung ist im zweiten Stock!“ Charly Ortner weist bedauernd nach oben. Doch während er sich um seine Besucher sorgt, wird klar, welches Hindernis die Stufen für ihn selbst darstellen müssen. Langsam geht er voraus, es fällt ihm schwer, die Beine zu heben. „Ich bin noch in der ‚Off‘-Phase, aber das wird schon“, meint er entschuldigend. „Off“, das bedeutet, dass fast gar nichts geht. Sich anziehen, Schuhe binden – „da bin ich total patschert“. Grund sind die steifen Muskeln. „Off“, das ist die Zeit, in der sich der 46-Jährige „mies“ und „elend“ fühlt, die Zeit, bevor er seine Medikamente einnimmt oder sie zu wirken beginnen. Das kann eine Dreiviertelstunde dauern. Wer Parkinson hat, lernt vorauszudenken, sein Leben genau zu planen. Die Tabletteneinnahme so einzuteilen, dass die wertvollen „On“-Phasen zur richtigen Zeit einsetzen – etwa für ein Gespräch über sein Leben. Danke.
Was diese Phasen für die Betroffenen und ihre Angehörigen so überaus wichtig macht, ist ihre kurze Dauer – bei Charly Ortner sind es jeweils etwa eineinhalb Stunden, manchmal mehr, manchmal auch weniger. Über den Tag verteilt ergeben sich so insgesamt sechs „On“-Stunden. Jede Minute davon zu nützen, „das bedeutet Stress und Druck“, sagt seine Frau Andrea. „Spontanität ist in unserem Leben ein Fremdwort.“ Will die Familie die Zeit für einen Spaziergang nützen, muss sich der Vater von zwei Buben im Alter von 18 und 16 Jahren noch im „Off“ vorbereiten, sich unter größtem Kraftaufwand und Schmerzen anziehen. Auch die Essenszeiten müssen genau einkalkuliert werden, nützen die Medikamente doch nichts, wenn sie währenddessen eingenommen werden.
Als der frühere selbstständige Kfz-Mechanikermeister mit der Diagnose Parkinson konfrontiert wurde, war er erst 38 Jahre alt. „Ausgerechnet mir, der ich mich doch immer so gern als Glückskind bezeichnet hatte, fehlte es plötzlich an ,Glückshormonen‘, dem Botenstoff Dopamin“, schreibt das aktive Mitglied der Parkinson Selbsthilfe Tirol im neuen Informationsblatt der Gruppe. Heute wisse er, wie schlimm ein Mangel sei: „Es kann so weit gehen, dass man sich nicht mehr bewegen kann. Schmerzen begleiten dich täglich, der ganze Körper steht unter Spannung.“ Parkinson sei die Krankheit mit den hundert Gesichtern.
Für seine Frau war die Diagnose vor inzwischen acht Jahren „ein Schock“. Alles habe sich seither verändert: „Früher waren wir wandern, Ski fahren, schwimmen. Wenn wir heute einmal einen Spaziergang schaffen, dann ist das schon ein ,Highlight‘.“ Charly Ortner selbst meint über seine Krankheit: „Wir hatten noch so viel vor, wir hatten Ziele.“ Dass es so früh passieren musste, damit hadert er besonders: „Die Kinder waren noch so klein.“ Alters-Parkinson sei auch bei Weitem nicht so aggressiv, außerdem könne man mit fortgeschrittenem Alter von sich sagen, man habe sein Leben gelebt.
Anstatt wie gewohnt voll im Leben zu stehen, bekommt er heute eine Erwerbs-Unfähigkeitspension weit unter der Mindestsicherung. „Als Kranker ist man in dieser Gesellschaft leider nicht viel wert.“ Das Geld reicht auch nicht für viele nötige Therapien, die Hälfte der Kosten ist Selbstbehalt. „Dass sich das nicht ausgeht, kann sich jeder selbst ausrechnen“, sagt Andrea Ortner. Dabei habe etwa der letzte Reha-Aufenthalt ihrem Mann so gutgetan. Der werde aber nur alle zwei Jahre genehmigt und nur zweimal innerhalb von fünf Jahren.
Für sie selbst hätten sich in den vergangenen Jahren die Wertigkeiten verändert. Kleinigkeiten, die sie früher noch in Rage brachten, können sie heute nicht mehr aufregen. Und ihr Mann, der sieht sich trotz allem als ein „Positiver“. Als einer, der Gleichgesinnten helfen will, etwa mit Informationen über die Krankheit. „Ich glaube, das liegt mir im Blut. Und da habe ich auch eine Aufgabe.“ Seine Frau nickt: „Dieser Optimismus, das ist ein Charakterzug, den er hoffentlich nie verliert.“
Inzwischen sind fast eineinhalb Stunden vergangen, die Wirkung der Medikamente ist augenscheinlich. Als Charly Ortner nun wieder die Treppen hinabsteigt, ist vom anfänglichen Schlurfen keine Spur mehr. Beinahe leichtfüßig geht’s dahin, fast scheint er zu hüpfen. Noch gute restliche „On“-Zeit.