Notsituation: Zuschauer schieben Verantwortung nicht immer ab
Seit 1970 legt die Sozialpsychologie nahe, dass die Anwesenheit anderer Menschen in einer Notsituation das Verantwortungsgefühl und die Hilfsbereitschaft des Einzelnen verringert. Forscher der Uni Innsbruck steuern nun neue Überlegungen zu dem Forschungsgebiet bei.
Innsbruck – Als die 28-jährige Kitty Genovese 1964 auf der Straße von New York ausgeraubt, vergewaltigt und erstochen wurde, haben mindestens 38 Personen ihre Schreie gehört oder Teile ihres Martyriums gesehen. Doch keiner der Augenzeugen griff ein, und so starb sie auf der Fahrt ins Krankenhaus. 1970 wurde dieser Zuschauereffekt, auch Genovese-Syndrom genannt, wissenschaftlich beschrieben: Demnach verringere eine große Zahl möglicher Helfern die Chancen eines Opfers, dass jemand tatsächlich einschreite. Innsbrucker Forscher haben nun aber gezeigt, dass Zuschauer sehr wohl helfen, wenn sie erkennen, dass in einer Situation der Beistand von mehreren Personen notwendig ist, berichten sie aktuell im „British Journal of Social Psychology“.
Die Wissenschafter vermuteten, dass die Hilfsbereitschaft sinkt, wenn der eigene Beitrag als überflüssig erachtet wird, erklären sie in einer Aussendung der Universität Innsbruck. Darum schufen sie eine fiktive Psychologiestudentin, die per E-Mail Studienkollegen bat, an ihrer Untersuchung zum Thema Gedächtnis teilzunehmen. Manchen der Empfänger schrieb sie, dass nur mehr eine einzige Rückmeldung fehle, damit die Studie komplett ist, andere erhielten die Information, dass sie noch 100 Antworten bräuchte. „Die Auswertung zeigte tatsächlich, dass der Zuschauereffekt nicht eintrat, wenn mehrere Rückmeldungen benötigt wurden“, so Tobias Greitemeyer vom Institut für Psychologie der Uni Innsbruck.
„Zuschauer machen ihre Hilfe sowohl von der Anzahl der Personen abhängig, an die ein Hilfeaufruf ergeht, als auch von der subjektiven Einschätzung, wie viele Helfer insgesamt für eine erfolgreiche Hilfe benötigt werden“, meinen die Forscher.
Zwischen dem E-Mail Verkehr von Innsbrucker Studenten und der New Yorker Straße besteht zwar ein kleiner Unterschied, doch, „obgleich unsere Experimente unter beschränkten Kommunikationsbedingungen erfolgten, lassen sich daraus praktische Maßnahmen zur Erhöhung der Hilfsbereitschaft auf Basis rationaler Überlegungen ableiten“, so Greitemeyers Institutskollege Dirk Mügge. (APA)