Erbärmliche Festung Europa
Der Schweizer Theater-Universalist Christoph Marthaler verwandelt das Parlament in einen Raum des Nachdenkens über Europa.
Von Bernadette Lietzow
Wien –Die Warnung zuerst: „Letzte Tage. Ein Vorabend“ verlangt dem Zuschauer einiges an Bereitschaft ab, sich an der Hand Christoph Marthalers durch das große Verzweifeln an der Idee Europa führen zu lassen, dabei zuzusehen, zuzuhören und mitzufühlen. Ein Großteil des Publikums, das am Freitag zur Festwochen-Uraufführung in das Parlament an der Ringstraße geströmt ist, dürfte der Sogwirkung von Marthalers grenzenüberschreitender Theatersprache erlegen sein, so begeistert gestaltete sich der Applaus nach dem beseelt-schauerlichen Meisterwerk.
Den historischen Sitzungssaal des von Theophil Hansen entworfenen, 1883 eingeweihten Parlamentsgebäudes verwandelt der Regisseur in einen Theaterraum, wobei das Publikum im Abschnitt der etwas unbequemen „Holzklasse“ Platz nimmt, während sich in den fächerartig gestalteten Abgeordnetenbänken die Schauspieler und an einer der Flanken die Musiker aufhalten. Geleitet von einem beflissenen Beamten betreten fünf Raumpflegerinnen in spitalstürkisfarbenen Kitteln die Szenerie, dicht gefolgt von fahlen Anzugträgern mit roten Blinknasen – und schon ist man mitten im Marthaler’schen Kosmos. In diesem wird die Musik Temperatur und Subtext des Abends bestimmen und mit ihrer, je nach eingesetztem Werk, Süße, Schwere, bisweilen Ausgelassenheit, den Schrecken der verwendeten Texte illustrieren – bis die Klangwelt im letzten Drittel des Abends vollends die Oberhand gewinnt und zum Mahnmal gedeiht.
Es sind die Werke vertriebener oder in den Lagern der Nationalsozialisten ermordeter Komponisten, die da zu Gehör gebracht werden: von Erwin Schulhoff, Viktor Ullmann, Fritz Kreisler, Józef Koffler, André Tansman und Szymon Laks. Die Interpretation liegt in den Händen ausgezeichneter Instrumentalisten unter der Leitung des Bassisten Uli Fussenegger, der die meisten Stücke bearbeitet und arrangiert hat. Angelehnt an Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“ werden bei Marthaler die schon vor dem Epochenbruch des Ersten Weltkriegs zu Tage tretenden Fußangeln der Idee Europa, Nationalismus und Rassismus, unter Verwendung von Originalmaterial wie einer Rede des antisemitischen Reichstagsabgeordneten und späteren Wiener Bürgermeisters Karl Lueger deutlich gemacht. Wahnwitzig dargeboten vom einen großartigen, Marthaler-erfahrenen Ensemble rund um Bettina Stucky, Ueli Jäggi, Katja Kolm oder Josef Ostendorf kommen die unerfreulichen antidemokratischen Auswürfe des ungarischen Premiers Viktor Orbán ebenso zur Sprache wie der angstgeleitete Alltagsrassismus einer „verstörten Weltoffenen“. Wie traurig und beängstigend die Langlebigkeit zersetzender Ideen und wie hilflos angesichts dessen Idealisten eines Europas der Kontraste sind, zeigt dieser kluge, innige Abend schmerzhaft auf.