Blick von außen

Sturm im Wasserglas? – Nicht ganz

Von Heinz Gärtner...

Von Heinz Gärtner

Die europäischen Regierungen protestieren gegen das Überwachungsprogramm der amerikanischen Geheimdienste. Die Proteste waren noch verhalten, als Bürger betroffen waren, weil man das noch mit dem Kampf gegen den Terrorismus erklären konnte. Als die EU-Institutionen Ziel der Spionage waren, konnte man nicht mehr schweigen. Natürlich weiß man, dass spioniert wird – auch unter Freunden, wie das Beispiel Industriespionage zeigt. Nicht die Spionage an sich, sondern sowohl das Ausmaß der Überwachung als auch die Tatsache, dass sie öffentlich wurde, sind der Grund der Aufregung.

Die europäischen Regierungen wollen sich die transatlantischen Beziehungen von Edward Snowden aber nicht ruinieren lassen. Zu viel steht auf dem Spiel. Beide Seiten des Atlantiks haben ein Interesse an erfolgreichen Verhandlungen über das geplante „Transatlantische Freihandels- und Investitionsabkommen“ (TTIP), das nicht wegen der Enthüllungen scheitern soll. Es kann sein, dass etwa Frankreich diese als Druckmittel benutzen will, um bessere Bedingungen zum Schutz der eigenen Kulturgüter aushandeln zu können. Der französische Präsident hat sich ja am kritischsten gegenüber den USA geäußert.

Der Bürgerkrieg in Syrien und das Atomprogramm des Iran werden letztlich wieder die amerikanisch-europäische Tagesordnung dominieren. Allgemeiner, kein Staat der Europäischen Union will, dass sich die individuellen Beziehungen mit den USA verschlechtern. Das ist wohl auch der Grund, warum einige europäische Staaten dem Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Evo Morales die Überflugrechte verweigerten, weil Snowden an Bord vermutet wurde.

Österreich, das die Landung zuließ, hat sich in dieser Situation wohl vorbildhaft verhalten. Dass die USA auf kleinere, auch befreundete Staaten extremen Druck aus­üben können, zeigt das Beispiel Neuseeland in den achtziger Jahren, als sich das Land als nuklearwaffenfrei erklärte und den atombetriebenen und -bestückten Schiffen das Anlaufen an neuseeländischen Häfen verweigerte. Die Vereinigen Staaten isolierten das Land daraufhin international und kündigten ihre Verpflichtung gegenüber Neuseeland im regionalen ANZUS-Pakt auf, den Neuseeland als Grundlage für seine sicherheitspolitische Unabhängigkeit betrachtete. Neuseeland behielt diese Bestimmung zwar bei, führte aber keine Untersuchungen bei anlaufenden Schiffen mehr durch.

Nicht einmal die amerikanisch-russischen Beziehungen werden besonders unter der Snowden-Affäre leiden, weil ihn Russland nicht auslieferte. US-Präsident Barack Obama hat angekündigt, dass er sich mit Russland um eine weitere Verringerung der Zahl der strategischen Nuklearwaffen bemühen will. China, das Snowden ausreisen ließ, braucht Obama, um auf Nordkorea Einfluss zu nehmen.

Wird also die Welt nach den Enthüllungen über die Spionagetätigkeit der amerikanischen Geheimdienste und dem Sturm im Wasserglas der europäischen Institutionen wieder zur Normalität der internationalen Politik zurückkehren? – Nicht ganz! Eher unbemerkt von der Öffentlichkeit wird es eine Reform der Regelung der Geheimdienstaktivitäten sowohl innerhalb der USA als auch im transatlantischen Verhältnis geben. Das kann zu mehr Transparenz und Demokratie beitragen. Bisher ist es nach amerikanischen Gesetzen durchaus erlaubt, europäische Bürger abzuhören. Die europäischen Regierungen wussten wohl davon, die Bürger wohl weniger. In Zukunft werden die Bürger und die Parlamente besser über die Tätigkeit der Überwachungsdienste informiert und der Datenschutz verbessert werden müssen. Die Umsetzung der EU-Richtlinie von 2006, die Mitgliedstaaten verpflichtet, vorsorglich Telefon- und Internetdaten der Bürger zu Fahndungszwecken zu speichern, muss besser überwacht werden.

Zudem wird die Verhältnismäßigkeit der Tätigkeit der Nachrichtendienste überprüft werden müssen. Seit 2005 sind etwa 20 Amerikaner Opfer von Terroranschlägen geworden – ein Bruchteil der Toten durch Waffengewalt; fast alle ereigneten sich außerhalb der Vereinigten Staaten. Die Ausgaben für Sicherheit in den USA entsprechen für jeden amerikanischen Haushalt seit 9/11 70.000 Dollar (New York Times, 3. 7. 2013). Für nachträgliche Reformen gibt es etwa den Präzedenzfall des Daniel Ellsberg, ein ehemaliger Mitarbeiter des Verteidigungsminis­teriums, der 1971 die Pentagon-Papiere, in denen die von amerikanischen Präsidenten verheimlichte Vietnamkriegspolitik deutlich wurde, an die Öffentlichkeit brachte. Eine indirekte Folge davon war beispielsweise der Beschluss des „War Powers Act“ 1973, der den Spielraum der Präsidenten gegenüber dem Kongress bei militärischen Interventionen der Vereinigten Staaten erheblich einschränken sollte.

Das „Transatlantische Freihandels- und Investitionsabkommen“ ist nur vordergründig ein wirtschaftliches Abkommen. Tatsächlich geht es darum, eine neue liberale Weltordnung zu schaffen. Sie soll gemeinsame Werte, Standards, Normen und Prinzipien der demokratischen Marktwirtschaften so verankern, dass autokratische und halbautokratische Staaten wie China oder Russland nur die Wahl haben, daran teilzunehmen oder sich zu isolieren. Es ist eine Ironie, dass die Überwachung von Freunden und Bürgern gerade nicht derartige Werte vermittelt und eher Staaten wie China zugeschrieben wurde. Zu einer liberalen Weltordnung gehören auch Transparenz, Offenheit und Schutz der persönlichen Freiheit. Auf diese Prinzipien werden sich die demokratischen Staaten wieder besinnen müssen. Dazu hat diese transatlantische Krise, die von Edward Snowden ausgelöst wurde, beigetragen.