Literatur

Das Trauma von „T4“

Historiker Götz Aly gibt den „Euthanasie“-Opfern der Nazis ein Stück Würde zurück.

Von Christoph Mair

Innsbruck –200.000 Deutsch­e, die die besondere Fürsorge der vom Nationalsozialismus so gern beschworenen Volksgemeinschaft gebraucht hätten, wurden zwischen 1939 und 1945 ermordet. Umgebracht, weil sie behindert, psychisch krank, aufsässig, erblich belastet waren oder als verrückt galten.

Allein dieses nüchterne Faktum der Monstrosität und Menschenverachtung des Naziregimes lässt erschaudern. Doch der deutsche Historiker und Publizist Götz Aly begnügt sich nicht mit der Darstellung von Strukturen, Entscheidungsträgern und Prozessen der verharmlosend als „Euthanasie“ (schöner Tod) bezeichneten Ermordung von so genanntem „lebensunwerten Leben“. Er versucht, in seinem bedrückenden Buch „Die Belasteten“ den Opfern ihre Namen, ihre Geschichte und damit ein Stück ihrer Würde zurückzugeben. Aly zeichnet auch jene fatale Konstellatio­n nach, die den Opfern nur in ganz wenigen Ausnahmefällen die Möglichkeit gab, der Todesmaschinerie zu entrinnen. Denn in einem System, dessen Menschenbild keine Schwächen tolerierte und dessen Propaganda entsprechend trommelte, empfanden viele Eltern ein behindertes Kind als Belastung und Makel und fragten bei einer gefälschten Nachricht über einen natürlichen Tod in einer Anstalt oft nicht mehr nach. Nur in wenigen Fällen entgingen die Todeskandidaten der Gaskammer, wenn ihr­e Verwandten entsprechend energisch für sie eintraten. Denn die Henker waren peinlich darauf bedacht, keinen Widerstand bei den Eltern zu erzeugen. Denn das Mordprogramm, nach der Adresse der Zentrale in Berlin in der Tiergartenstraße „Aktio­n T4“ genannt, sollte keine allzu groß­e Aufmerksam­keit auf sich ziehen. Ganz geheim ging es dennoch nicht vonstatten. Die Nazis, so lautet eine von Alys umstritten­sten Thesen, wollten mit der Aktion T4 auch abtesten, inwieweit die Gesellschaft die massenhaft­e Ermordung bestimmter Gruppen tolerieren würde. Die Erkenntnis, dass die Tötung Geisteskranker auf keinen nennenswerten Widerstand stieß, habe so auch den Holocaust begünstigt, folgert der Autor.

Die an der Selektion und Tötung der behinderten Menschen beteiligten Wissenschafter waren keineswegs stumpfe Schlächter, sondern Forscher, die sich in einem völlig pervertierten Forscherdrang Präparate für ihre Arbeit besorgten. Je deutlicher sich die Niederlage abzeichnete und je prekärer die Versorgunglage wurde, ums­o öfter häufiger bedeuteten simple Rechnungen das Todes­urteil für die so genannten „unnützen Esser“.