Gesundheit

Die Opfer der Leistungsgesellschaft

Kinderpsychologe und Jugendforscher schlagen Alarm. Kinder und Jugendliche sind Opfer der Leistungsgesellschaft. Schule muss als Sündenbock für die Überforderung der jungen Menschen herhalten.

Von Denise Daum

Innsbruck –Burn-out, chronische Überlastung, ständiger Stress – die Krankheiten unserer modernen Gesellschaft plagen Menschen oftmals nicht erst im Erwachsenenalter, sondern können sich wie ein roter Faden durch das gesamte Leben ziehen. Von der Einschulung über die weitere Schullaufbahn bis hinein in die Arbeitswelt. Wenn chronische Überforderung bereits im Kindes- und Jugendalter auftritt, wird oftmals der Schule die alleinige Schuld dafür zugeschoben. Dem widerspricht der Innsbrucker Kinderpsychologe Gerhard Nosko. Die Volksschule selbst, ist er überzeugt, sei so strukturiert, dass kaum ein Kind überfordert sein sollte. Problematisch seien vielmehr die außerschulischen Bedingungen und Verpflichtungen. Kinder brauchten leistungsfreie Zeit und dürften auch ruhig mal Langeweile verspüren. „Aber Kinder müssen im Takt der Eltern mitlaufen, sich übermäßig anpassen und sind fast durchgehend auf 180. Und dann wundern wir uns, dass wir chronisch überforderte Kinder haben“, sagt der Klinische Psychologe.

Der Wechsel vom Kindergarten in die Volksschule bringt für die Kinder zweifelsohne eine große Veränderung mit sich und markiert das Ende eines Lebensabschnittes. Doch nicht für alle jungen Schüler stellt die Volksschule eine gleich große Herausforderung dar. Wie gut Kinder mit dem Übergang zurechtkommen, hänge ganz davon ab, wie gut sie dorthin begleitet und vorbereitet wurden, ist Nosko überzeugt. „Unter vorbereitet verstehe ich aber nicht, im Gegensatz zur Auffassung vieler Eltern, ein Hindressieren auf Leistung“, betont Nosko, „vielmehr ist die soziale und emotionale Reife wichtig.“ Dazu gehöre auch, dass sie schon vor dem Schuleintritt zu Hause gelernt haben, bei Tisch zu sitzen und sich mit etwas zu beschäftigen, sei es im gemeinsamen Spiel oder damit, etwas zu zeichnen. „Manche Eltern schieben gern die Verantwortung auf die Pädagogen ab und sagen: ,Sich zu konzentrieren und ruhig sitzen zu können, muss das Kind doch in der Schule lernen!‘ Das ist falsch.“

Alarmierend sind auch die Ergebnisse der Jugend-Wertestudie. 56 Prozent der befragten 14- bis 29-Jährigen sagen, dass sie in der Arbeit, Schule oder im Studium stark unter Druck stehen. Die Hälfte meint sogar, den Leistungsdruck noch weiter ansteigen zu spüren.

Für Philipp Ikrath vom Institut für Jugendkulturforschung sind Kinder und Jugendliche schlicht Opfer der Leistungsgesellschaft. „Es reicht nicht mehr aus, brav seine Ausbildung zu absolvieren, um einen sicheren Job zu haben“, sieht Ikrath einen Grund für den Leistungsdruck, den Jugendliche verspüren. Die Bildungsabschlüsse seien in den letzten zehn bis zwanzig Jahren kontinuierlich entwertet worden. War früher die Matura noch die beste Grundlage, um am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, sei heute nicht einmal mehr ein abgeschlossenes Doktoratsstudium ein Garant für einen Job. Eine Zusatzqualifikation nach der anderen will erworben sein, daneben eine Reihe von Praktika und im Lebenslauf sollten keine Lücken auftreten, die auf Nichtstun hinweisen.

„Selbst wenn junge Leute eine Arbeit gefunden haben, müssen sie sich ständig profilieren. Mit Dienst nach Vorschrift hat man heute kein Leiberle mehr. Es herrscht ein ständiger Konkurrenzkampf, sowohl zwischen den Jungen und Alten als auch zwischen den Jungen untereinander“, ist der Jugendforscher überzeugt. Diesen Kampf gewinne aber nicht der Moralischste, sondern derjenige, der sich am stärksten durchsetzt.

Als zusätzliche Belastung sieht Ikrath darüber hinaus die prekären Beschäftigungsverhältnisse: befristete Verträge, freie Dienstverträge, neue Selbstständigkeit. Den Ernst der Lage hätten die jungen Menschen zwar erkannt, aber dagegen aufzubegehren wagen sie nicht. „Die Jugendlichen spielen einfach mit“, bemerkt Ikrath trocken.

Die Schule leiste zwar einen massiven Beitrag zu dieser Entwicklung, weil die jungen Leute dort erstmals den Leistungsdruck zu spüren bekommen, aber schuld an der derzeitigen Situation seien nicht die Ausbildungsstätten. „Das ist eine Modeerscheinung, sämtliche gesellschaftliche Probleme auf die Schule zu schieben und sie zum Sündenbock zu machen. In der Schule werden die Kinder und Jugendlichen daran herangeführt, ständig Leistung zu erbringen, aber sie hat die Leistungsgesellschaft nicht erfunden“, bricht Ikrath eine Lanze für die Schulen.

Dass die Jugendlichen auch von Seiten der Eltern vielfach Druck bekommen, belegt die Studie ebenfalls. So gibt ein Drittel der 14- bis 19-Jährigen an, dass sie von den Eltern unter Druck gesetzt werden, schulische Erfolge zu erzielen. Den Grund dafür sieht Ikrath in der Angst, die Eltern um ihre Kinder haben. „Auch die Eltern stecken tief in diesem System der Leistungsgesellschaft drin und befürchten, dass der Nachwuchs keine Berufschancen hat, wenn er schlechte Noten nach Hause bringt.“