Europa „hochtrabend in seiner Empörung und feige beim Handeln“
Internationale Pressekommentare befassen sich am Donnerstag mit der diplomatischen Krise um den unfreiwilligen Zwischenstopp des bolivianischen Präsidenten Evo Morales in Wien.
Die spanische Tageszeitung „El Pais“ schreibt:
„Boliviens Präsident Evo Morales wurde gedemütigt, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Mehrere europäische Länder verweigerten seiner Maschine die Überflugrechte wegen des bloßen Verdachts, der ehemalige Geheimdienstler Edward Snowden könne an Bord sein. Ein solches Vorgehen ist ohne Beispiel und verstößt gegen die Regeln der Diplomatie. Es ist eine Schande, mit welcher Leichtigkeit einige europäische Staaten sich dem Druck der USA beugten.
Wenn es darum geht, die Bürger vor der US-Spionage zu schützen, agieren die EU-Staaten vorsichtig und schüchtern. Die USA haben das Recht, Gesetzesbrecher zu verfolgen. Präsident Barack Obama läuft jedoch Gefahr, bei der Jagd auf Snowden dem ohnehin angeschlagenen Ansehen der USA weiteren Schaden zuzufügen.“
„Süddeutsche Zeitung“ (München):
„Was derzeit (...) geschieht, sprengt alle Vernunft. Snowden flüchtet ohne Plan durch die Welt, er polarisiert und wird politisch instrumentalisiert. So wenig er ein Fall für einen (deutschen) Asylrichter ist, so wenig dürfen hysterische Regierungen einen Regierungsjet zur Landung zwingen in der Vermutung, der bolivianische Präsident Evo Morales transportiere Snowden. Wenn er das täte, hätte er sich und sein Land diskreditiert. Snowden gehört nicht nach Moskau oder Bolivien, sondern vor ein Gericht in den USA.“
„Donaukurier“ (Ingolstadt):
„13 Stunden lang saß Boliviens Präsident Evo Morales zwangsweise auf dem Flughafen Wien-Schwechat fest. Frankreich, Italien und Portugal hatten ihren Luftraum für die Präsidentenmaschine gesperrt, möglicherweise auch Spanien. Der Bolivianer war nach einer Dienstreise in Moskau auf dem Heimflug - weder von ihm noch von seinem Flugzeug ging irgendeine Bedrohung aus. Ob es vorauseilender Gehorsam gegenüber Washington war oder ein Anruf des US-Botschafters - die beteiligten Europäer sollten sich schämen. Wollen sie bei nächster Gelegenheit ein ziviles Passagierflugzeug abschießen, weil man davon ausgehen muss, dass sich der politische Flüchtling Snowden an Bord befindet? Denn um einen politischen Flüchtling handelt es sich.“
„Neue Osnabrücker Zeitung“:
„Dass einige europäische Länder Boliviens Präsident Evo Morales Überflugrechte verweigerten, weil sie den flüchtigen Snowden an Bord vermuteten, ist nur der jüngste einer Reihe diplomatischer Missgriffe: Südamerikaner wie Morales stehen in den Augen der USA und ihrer Mitstreiter offenbar unter dem Generalverdacht, den Westen bei jeder Gelegenheit schädigen oder zumindest vorführen zu wollen. (...) Überhaupt fällt es der politischen Klasse, egal welcher Couleur, schwer, nach Snowdens Tat einen kühlen Kopf zu bewahren. So mancher wittert die Chance, den USA eins auszuwischen, die sich wiederum vom Klassenfeind umzingelt sehen. Alte Feindbilder: Snowden hat sie ausgegraben.“
Die Blätter der Zeitungsgruppe „Centre-France“:
„Das ist also Europa: Hochtrabend in seiner Empörung und feige beim Handeln. Der ‚Fall‘ Edward Snowden, der Ex-IT-Berater der National Security Agency (NSA), der enthüllt hat, dass die USA uns ausspionieren, sät derzeit überall Zwist. Er hat sogar einen schweren diplomatischen Zwischenfall zwischen der EU und Bolivien ausgelöst, nachdem der europäische Luftraum für das Flugzeug von Staatschef Evo Morales geschlossen wurde. (...) Es muss gesagt werden: Kaum sind die empörten Reaktionen auf den Skandal der ‚großen Ohren‘ der USA verhallt, drängelt sich niemand vor, um Edward Snowden Asyl anzubieten. Der berühmte ‚Whistleblower‘ ist ein lästiger Held geworden, immer noch im Transit in Moskau. Nachdem Europa seine Verdienste - übertrieben - gelobt hat, hat es nicht vor, ihn aufzunehmen und damit ‚Uncle Sam‘ zu widersprechen.“
„Gazeta Wyborcza“ (Warschau):
„Europa darf nicht die Tür zuschlagen und vorgeben, es sähe die Jagd auf Edward Snowden nicht. Er ist kein Verbrecher. Inzwischen hat die amerikanische Verfolgungsjagd nach dem 30-jährigen Informatiker der Nationalen Sicherheitsagentur (NSA) eine Form angenommen, als ob er mindestens der zweite Osama Bin Laden wäre.“
„Politika“ (Belgrad):
„Die Zwangslandung eines Flugzeuges auf einem europäischen Flughafen mit einem rechtmäßigen Präsidenten eines international anerkannten Staates, der (der Präsident) dort (...) die ganze Nacht verbringen musste, eine solche internationale Störung von Recht, Normen und Protokoll wurde nicht einmal während des Kalten Krieges verzeichnet, dazu kam es jedoch in der vorletzten Nacht auf dem Wiener Flughafen. (...) Führende europäische Politiker haben rasch aufgehört, die ‚Enthüllung‘, dass sie von amerikanischen Diensten abgehört worden waren, zu skandalisieren. Bis vorgestern war dies noch eine ‚unzulässige Verhaltensweise Washingtons‘, über Nacht war die Situation umgekehrt, und der bolivianische Präsident wurde praktisch unter dem Verdacht gekidnappt, dass er den amerikanischen Whistleblower mit sich führe, um ihn vor der amerikanischen Justiz zu retten.“
„Publico“ (Madrid)
„So sind wir Europäer. Die USA spionieren unsere Regierungschefs bis unter der Dusche aus, aber wir vom alten Kontinent sind nicht nachtragend, und es reicht der Befehl aus Washington, damit wir der Supermacht zur Hilfe eilen, die von einem jungen Mann bedroht ist. (...) Obwohl Snowden nicht an Bord der Maschine war, muss Morales verstehen, dass er nicht einfach so durch die Welt fliegen kann. Auch er muss sich den Regeln des weißen Mannes fügen. (...) (Spaniens Premier Mariano) Rajoy, der ein gutes Herz hat, erlaubte ihm sogar, das Mutterland zu überfliegen und aufzutanken. Dafür sollte er eigentlich dankbar sein.“
„Pagina 12“ (Buenos Aires):
„Die Gleichheit der Völker ist ein Pfeiler des Zusammenlebens, der - leider - in der Realität nicht immer seine Bestätigung findet. Es kommt vor (...), dass in den internationalen Beziehungen ein Messer unter dem Poncho versteckt wird. Macht und Krieg hebeln die Regeln aus, die Stärke die Prinzipien. Im 21. Jahrhundert ist (...) eine einzige, mit niemand anderem vergleichbare Militärmacht auf der Welt verblieben. Der Präsident der Vereinigten Staaten ist im engen Rahmen des Möglichen besser als seine Kollegen. Aber Barack Obama setzt der zerstörerischen Präpotenz der politischen Führer in der Welt nichts entgegen. Der Friedensnobelpreisträger behält Guantanamo bei - eine repressive Gesetzeslage mit wenigen Entsprechungen in der zivilisierten Welt. Er befahl, Osama Bin Laden auf dem Territorium eines anderen, souveränen Staates zu töten (...) Der Unterschied zu den Römern, die ihre gegeißelten Opfer auf der Straße zeigten, ist quantitativ oder ein Unterschied im Ausmaß. Bei diesem peinlichen Auftritt waren europäische Staaten die Protagonisten, die als Zuträger (oder Lakaien) einer verrückten Aktion fungierten. Die Wiege der Zivilisation betreibt Barbarei.“ (APA/dpa/AFP)