„Wir leben in einer Bewegungsgesellschaft“
Die vergangenen Jahre standen im Zeichen des Protests. Ein Experte betrachtet die derzeitige Situation und blickt in die Zukunft.
Innsbruck –Wie schnell aus einem Funken Unzufriedenheit ein Flächenbrand des Protests entstehen kann, zeigt der „Hüttenkäseprotest“: Binnen drei Jahren war in Israel der Preis des beliebten Käses um 40 Prozent gestiegen. Aus dem darauf keimenden Facebook-Aufstand entstand 2011 ein Verbraucherboykott. Die Kunden kauften keinen Käse mehr, was zur Folge hatte, dass dessen Preis um 25 Prozent sank.
Das sei nur eine von vielen Bewegungen der letzten drei Jahre, wo gegen die Arroganz der Macht angekämpft wird. Laut Peter Ullrich vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung der TU Berlin versuchen Menschen derzeit weltweit im Schutz der Gruppe am System zu rütteln: „Es findet eine Häufung von größeren Demonstrationen statt. Wir leben in einer Bewegungsgesellschaft.“
Beispiele sind die erwähnten israelischen Proteste, wo die Menschen wegen der hohen Lebenshaltungskosten auf die Straßen gingen oder der zeitgleiche Aufruhr in Spanien und Griechenland, im Rahmen dessen soziale, wirtschaftliche und politische Missstände kritisiert wurden. Um ähnliche inhaltliche Zusammenhänge ging es beim Arabischen Frühling im Nahen Osten und Nordafrika – etwa die aktuelle Bewegung in Ägypten – und den Protesten in Brasilien. Bei der Occupy-Bewegung an der Wall Street wurde binnen sechs Wochen eine globale Protestwelle in Tausenden von Städten – darunter auch in Innsbruck – gegen das Finanzsystem losgetreten. Die Femen-Frauenaktivistinnen rufen barbusig weltweit zu Boykotten auf. Und in Stuttgart gingen Wutbürger auf die Straße, um sich gegen ein Bauprojekt zu wehren. Der Eindruck, Proteste seien omnipräsent, ist laut Ullrich naheliegend: „Denn allein in Berlin finden oft an einem Tag unzählige Demonstrationen, Mahnwachen und andere Aktionen statt.“
Die Demonstranten seien mutiger geworden und die Gesellschaft sei Protestbewegungen gegenüber toleranter. Teils wird die soziale Rebellion heute sogar öffentlich geehrt: Kürzlich wurde die Kampagne „#aufschrei“ mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Dank dem Twitter-Hashtag habe die Diskussion über Sexismus an Dynamik gewonnen.
Was die Zukunft des Protests anbelangt, sieht Ullrich Potenzial in der virtuellen Welt: „In südeuropäischen Ländern, die unter dem Diktat der Troika stehen, werden soziale Bewegungen zu einem ,Laboratorium der Demokratie’.“ Dank der Möglichkeiten, sich rasch auszutauschen, könnten nach einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems alternative Versorgungen organisiert werden, oder man könne sich vernetzen, um zu verhindern, aus seiner Wohnung geworfen zu werden. (sam)