Film und TV

Mit Schirm, Charme und Millionen

Vor 50 Jahren gelang englischen Gentleman-Gaunern ein aufsehenerregender Zugüberfall. Jetzt erinnert eine neue Doku an den Coup des Jahrhunderts.

Innsbruck –Die britische Regenbogenpresse geizt bekanntlich nicht mit Superlativen. Aber in den Tagen nach dem 8. August 1963 kamen auch seriösere Blätter nicht umhin, in einem zwischen Empörung und Faszination schwankenden Tonfall von einem Jahrhundert-Coup zu sprechen. In einer präzise orchestrierten Nacht-und-Nebel-Aktion erbeuteten Unbekannte bei einem spektakulären Überfall auf einen Postzug rund 2,6 Millionen Pfund (was heute einer Gesamtsumme von etwa 50 Millionen Euro entsprechen würde). Von den Tätern fehlte zunächst jede Spur. Erst nach unzähligen Verhören der „üblichen Verdächtigen“ und dank des einen oder anderen Tipps von halbseidenen Informanten kam Scotland Yard der von Bruce Reynolds geführten „South West Firm“, einer bis dahin unbedeutenden Gang von Kleinkriminellen, auf die Spur. Es folgten erst­e Verhaftungen, frag­würdige Klüngeleien von Ermittlern und Verdächtigen und die von medialem Getöse begleitete Suche nach Drahtzieher Reynolds, dem es gelang, sich nach Mexiko abzusetzen.

Spätestens nach der spektakulären Flucht des Zugräubers Ronald Biggs aus dem Wandsworth Prison wurde auch die Unterhaltungsindustrie auf den geheimnisumwitterten Raub und seine schillernden Protagonisten, die ihre Herkunft aus Londons Armenvierteln in maßgeschneiderten Anzügen versteckten, aufmerksam. Allerdings nicht in Großbritannien, wo der Fall wegen mehrerer Ermittlungspannen als zu heißes Eisen galt, sondern in der Bundesrepublik Deutschland. Der TV-Dreiteiler „Die Gentlemen bitten zur Kasse“, in dem Horst Tappert („Derrick“) Bruce Reynolds verkörperte, wurde zum Straßenfeger – die Einschaltquote der Erstausstrahlung 1966 betrug sagenhafte 76 Prozent.

Carl-Ludwig Rettingers neuer Dokumentarfilm „Die Gentlemen baten zur Kasse“ lehnt sich nicht nur am Titel des TV-Klassikers an, er bedient sich auch seiner Bilder, die er geschickt mit Interviews von Zeitzeugen kombiniert. So beschwört er den Geist der Swinging Sixties und schafft es gleichzeitig, den medial verklärten „Great Train Robber­y“ mit dem über weite Strecken tristen Schicksal seiner Prota­gonisten zu konfrontieren: Bruce Reynolds – der die Dreharbeiten bis zu seinem Tod im Februar 2013 beratend begleitete – verfiel dem Alkohol. Ronald Biggs verprasste seinen Anteil im brasilianischen Exil und verhökerte seine Prominenz danach an Boulevardblätter und Touristen. Heute lebt er nach mehreren Schlaganfällen für haftunfähig befunden bei seinem Sohn in London.

Die anderen Gentleman-Gangster starben entweder in Haft oder verloren sich nach ihrer Entlassung in einem kriminellen Milieu, das mit guten Manieren und gediegener Garderobe nichts anfangen konnte. Zwei setzten ihrem Leben selbst ein Ende. Letztlich wurden alle für ihren Traum von einem Leben ohne finanzielle Nöte und existenzielle Ängste zur Kasse gebeten.

(jole)