Spanien

Weltberühmte Pilgerstadt Santiago beweint Opfer der Zugkatastrophe

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Anrainer zogen Verletzte mit Spitzhacken und Sägen aus Wracks. Mindestens 78 Menschen kamen ums Leben, mehr als 140 Personen wurden verletzt.

Von Roland Lloyd Parry/AFP

Santiago de Compostela – Vor den umgestürzten und ineinander verkeilten Zugwaggons, die sich meterhoch auftürmen, liegen die Leichen in einer langen Reihe. Nur notdürftig mit Decken und Handtüchern abgedeckt. „Ich hörte wie einen Donnerschlag“, erinnert sich Maria Teresa Ramos. „Leute haben geschrien. Ich sah den Zug auf der Seite liegen. Niemand hier hat je so eine Katastrophe gesehen.“ Die 62-Jährige ist noch Stunden nach dem verheerenden Zugsunglück kurz vor der spanischen Pilgerstadt Santiago de Compostela völlig erschüttert.

In ihrem Vorgarten sitzend beobachtet Ramos Donnerstagfrüh die Rettungskräfte, die mit zwei riesigen weißen Kränen versuchen, die zerstörten Waggons zu bergen. Ramos und ihre Freunde waren am Mittwochabend mit Decken und Handtüchern zu der Unfallstelle direkt vor ihrer Haustüre gerannt, um die Opfer zu versorgen.

Ihr Nachbar Martin Rozas half, Verletzte aus den Wracks zu ziehen und Decken über die Toten zu legen. Der 39-jährige Francisco Otero berichtet, Nachbarn hätten mit Spitzhacken, Vorschlaghämmern und Handsägen versucht, Menschen aus dem Zug zu befreien, noch bevor die Rettungskräfte eintrafen. „Das war alles so unwirklich.“ Er sei eine Minute nach dem Unfall vor Ort gewesen: „Das erste, was ich gesehen habe, war die Leiche einer Frau.“ Eine bedrückende Stille und „ein bisschen Rauch“ habe über der Unglücksstelle gelegen.

Bei dem schwersten Zugsunglück in Spanien seit 1944 wurden mindestens 78 Menschen getötet und mehr als 140 verletzt. Die Katastrophe ereignete sich just am Vorabend des großen Jakobsfestes, das jedes Jahr am 25. Juli in der weltberühmten Pilgerstadt gefeiert wird.

Auch die Menschen in dem Viertel, das an die Unglücksstelle rund vier Kilometer vor dem Bahnhof von Santiago angrenzt, waren schon in Feststimmung. Bis um 20.42 Uhr direkt vor ihrer Haustür der Hochgeschwindigkeitszug aus Madrid entgleiste. Einen Waggon schleuderte es sogar über die fünf Meter hohe Mauer am Bahndamm hoch auf die Straße vor den angrenzenden Häusern.

Die Weltkulturerbe-Stadt Santiago, in der der Jakobsweg für katholische Pilger endet, sagte das Fest zu Ehren ihres Heiligen umgehend ab. Normalerweise drängen sich Menschenmassen beim Jakobsfest in den engen Gassen der Altstadt rund um die imposante Kathedrale. In ganz Galicien, der nordwestspanischen Region, deren Hauptstadt Santiago ist, wurden nun offiziell sieben Tage Trauer ausgerufen. Für Spanien drei Trauertage.

Schwer erträglich macht die Katastrophe auch der Umstand, dass offenbar menschliches Versagen die Ursache für das Unglück war: Der Zug fuhr in der gefährlichen Kurve, in der eine Höchstgeschwindigkeit von 80 Stundenkilometern gilt, vermutlich mehr als doppelt so schnell. „Ich bin 190 (Stundenkilometer) gefahren!“, rief der Lokführer kurz nach dem Unfall. Per Funk gab er nach Angaben der spanischen Zeitung „El Pais“ durch: „Ich hoffe, niemand ist tot, sonst wird das ewig mein Gewissen belasten.“ Die spanische Bahn schloss ein technisches Versagen am Zug bereits am Donnerstag aus.