Auf den Spuren der Not
Bei einem alternativen Rundgang durch Innsbruck besuchen Interessierte mit der Diözese soziale Brennpunkte. Menschen am Rande der Gesellschaft rücken dabei in den Mittelpunkt.
Von Sabine Schluifer
Innsbruck –Es ist eine bunte Truppe, vom Gefängnisseelsorger über Pensionisten und Beamten bis hin zur Schriftstellerin sind an die 20 Personen gekommen. Sie alle wollen an diesem sonnigen Tag bewusst der Schattenseite des Lebens im Rahmen eines Rundgangs „Not in Innsbruck“ der Diözese nachspüren. Gertraud Gscheidlinger, Dienststellenleiterin der Basisversorgung und Wohnungslosenhilfe, führt durch die Stadt. „90 Prozent derer, die hierherkommen, sind in finanziellen Schwierigkeiten und wir versuchen, nach genauer Überprüfung der Fakten weiterzuhelfen“, gibt die 52-Jährige Auskunft. Der Wartebereich ist abgesehen vom kalten Fliesenboden eher wie ein Wohnzimmer eingerichtet, mit einer abgenützten, bunten Spielecke, Pflanzen und einem Aquarium. Am Boden stehen zwei Kisten mit gebrauchter Kinderkleidung, aus der sich die Klienten bedienen können.
Wie eine Touristengruppe folgt die Gruppe Gscheidlinger zur Mentlvilla, einer Notschlafstelle für Drogenabhängige. Wer den Drogenkonsum im Griff hat und seinem Tag ein wenig Struktur geben will, quert die Straße zum „abrakadabra“, um dort zu arbeiten. „Das ‚abrakadabra‘ ist ein niederschwellig zugängiges Arbeitsprojekt, das heißt, wir stellen mit Ausnahme unserer Hausregeln keinerlei Anforderungen an die Klienten“, erklärt Günter Schick, der Leiter des Arbeitsbereichs. Bei den Klienten besonders beliebte Arbeiten sind die Outdoortätigkeiten, wie dieses Jahr die Reinigung des Haller Schwimmbades oder die Gartenarbeit auf einem Grundstück in Zirl.
Zwei Drittel Männer, ein Drittel Frauen zwischen 18 und 55 Jahren verdienen sich in dem Geschäft vier Euro die Stunde und, was noch wichtiger ist, Anerkennung und Selbstwertgefühl. Jeder in seine eigenen Gedanken vertieft, spaziert die Gruppe weiter. Vor dem Bahnhof Sozialdienst, kurz BSD, sammeln sie sich wieder. Seelsorger Eberhard Mehl stellt sein Rad ab und Teilnehmerin Silvia Barbist, eine HTL-Lehrerin, macht sich Notizen für ein Schulprojekt im nächsten Jahr. Beim BSD schauen hauptsächlich Wohnungslose auf einen Kaffee und ein wenig Kommunikation vorbei, doch gerade am Wochenende können es auch bestohlene Reisende sein, die Hilfe brauchen. Während die Führungsteilnehmer zuhören, radelt ein bärtiger Mann mit langem, grauem Haar, einer kurzen roten Hose und nacktem Oberkörper vorbei. Schwungvoll lehnt er sein Rad an die Wand, geht ins BSD und kommt mit einem Glas Wasser und einem Stück Gebäck im Mund wieder heraus. Eine ältere Dame in geblümter Bluse hinterfragt: „Wie kann sich der so ein Rad leisten?“ Doch Gscheidlinger kontert: „Wieso nicht? Den kenn’ ich sogar, der arbeitet.“
Schon zum zweiten Mal nimmt der Pensionist Franz Gois an diesem Rundgang teil, weil er es wichtig findet, „Vorurteile abzubauen. Ich finde, hier können alle Unverbesserlichen, die über Obdachlose schimpfen, einmal Informationen erhalten und vielleicht ihre Meinung ändern.“ Gerade das kann dieser Spaziergang der anderen Art leisten. Es ist 18 Uhr und es kommt die letzte Station, die Wolfgangstube im Kapuzinerkloster.
In einer halben Stunde werden in der gemütlichen Stube in Not geratene Menschen vielleicht die erste warme Mahlzeit ihres Tages einnehmen. Im Kapuzinerkloster werden jährlich 9000 Abendessen und Frühstücke ausgegeben und jeder ist willkommen.
Das Essen ist gratis und wird von Tiroler Unternehmen gesponsert. Ein Sozialarbeiter und ein Zivildiener bemühen sich neben dem leiblichen auch um das seelische Wohl der Menschen. Denn was Menschen in Not am dringendsten brauchen, sind „Freundschaft, Selbstbestätigung und Respekt“, gibt Gertraud Gscheidlinger den Teilnehmern des Spaziergangs mit auf den Weg.