Im Königreich der Klänge
Erwin Ortner, Chorleiterlegende und Chor-Professor an der Wiener Musikuniversität, vor seinen Tirol-Auftritten in Wörgl, Erl und Stams im Gespräch.
Herr Ortner, die Academia vocalis begeht ihr Jubiläum zum 25-jährigen Bestand mit zwei Konzerten, die Sie mit Ihrem Arnold Schönberg Chor gestalten. Am Montag in der Pfarrkirche Wörgl, am Dienstag im Festspielhaus von Erl.
Erwin Ortner: In Wörgl ist das ein Brahms-Mendelssohn Programm und in Erl Bruckner. Zwischen dem Gloria und Credo der e-Moll-Messe singen wir das Graduale „Os justi“, nach dem Credo das „Locus iste“, damit auch hier etwas Ruhe eintritt und vor dem Agnus Dei das „Ave Maria“. Ich freue mich auf das Erler Festspielhaus, man hört ja Wunderdinge von der Akustik.
Und dann fahren Sie Anfang August ins Stift Stams zu einem Vokal- und Dirigier-Seminar.
Ortner: Ich bin ja auch ein leidenschaftlicher Lehrer und Basisarbeiter. In Tirol habe ich noch nie ein Seminar gemacht, jetzt hat mich Georg Weiss, der Landeschorleiter des Tiroler Sängerbundes, nach Stams eingeladen. Ich freue mich sehr, weil auch die Außergewöhnlichkeit des Ortes, wo etwas stattfindet, für mich wichtig ist.
Was ist Ihnen besonders wichtig in der Vermittlung von Chorarbeit?
Ortner: Neben dem Musikalischen ist auch wichtig, dass man verbalisiert, was man tut: Warum wiederhole ich jetzt? Oder nicht? Warum probiere ich jetzt nur mit dem Sopran? Warum bin ich bei dieser Stelle tolerant, obwohl ich höre, was nicht stimmt? Sehr wichtig ist mir bei der Stimmbildung, dass die Teilnehmer dabei ihren Körper entdecken. Mein Ansatz ist – auch beim Dirigieren – das Energetische, die Verbindung von Bewegung mit dem Singen und die Erfahrung daraus. Gerade im Laienbereich stehen manche Chorleiter so steif da, man kann fast nicht singen dazu, weil er sozusagen nicht atmet. Wer vorne steht, kann allein durch Bewegung sein Gegenüber steuern.
Und wann korrigieren Sie eventuell Fehler nicht?
Ortner: Wenn ich der Gruppe zutraue, dass beim zweiten Mal der Fehler weg ist. Der Chorleiter muss die Menschen einschätzen. Für einige ist es zu leicht, für andere zu schwer. Wie gehe ich damit um? Und wieder die Körperlichkeit: Sie können bei 20 Sopranen nicht hören, ob der 17. Sopran in der 2. Reihe mitkommt, aber Sie sehen es körperlich.
Ist Österreich ein Chorland?
Ortner: Ich hoffe! Wir müssen eine Chorland sein, wir müssen auf allen Ebenen daran arbeiten. Mit Seminaren und Veranstaltungen wie das Projekt „Österreich singt“, das nächstes Jahr wieder stattfinden wird. Oder das Bundesjugendsingen, das kürzlich in Kufstein sehr gut organisiert und betreut war. Für die 2000 Kinder ein unglaubliches Erlebnis. Ich bin seit 30 Jahren der künstlerische Verantwortliche, es macht mir ungeheuren Spaß.
Wo sind die Hindernisse?
Ortner: Was uns entgegenschlägt, ist das Amusische im Bildungsbereich. Es ist ein Faktum, dass das Musische in der Lehrer- und Lehrerinnenausbildung zurückgegangen ist. Wir versuchen gegenzusteuern. Chöre in den Schulen, man müsste Musiklehrer in die Schulen schicken, wenn der Volksschullehrer nicht singen kann. Aber nicht jammern, tun wir was!
Positive Beispiele?
Ortner: Es hängt natürlich auch immer von den Personen ab. Als Beispiel das Musikgymnasium in Innsbruck, der Siegfried Portugaller, ein wunderbarer Chorleiter und Musiklehrer, ein Siebensternpädagoge! In Salzburg gibt es Leute, die haben am Gymnasium Männerchöre! Wenn man weiß, wie es geht, singen auch Buben. Eine Wiener Volksschullehrerin in meinem Chor hat nur Schüler mit Migrationshintergrund. Über das Singen, zum Beispiel von Vokalen, nähert sie die Kinder an die Sprache an.
Was macht einen guten Chorleiter aus?
Ortner: Er muss wissen, musikalisch gesehen, wo er hinführen will. Bescheid wissen über das Musikstück, das kann ein Madrigal oder ein Volkslied sein. Er muss wissen, wie klingt das Endprodukt. Der nächste Schritt ist methodisch-didaktisch, wie kann ich das in kürzester Zeit mit der Gruppe umsetzen. Das kann man alles vorbereiten. Das Dritte ist, dass, wer vorne steht, Talent hat, mit einer Gruppe umzugehen. Es gehört Begabung dazu, vor einer Gruppe zu stehen und sie anzuleiten.
Es gibt einen drastischen Rückgang an Männerstimmen, Männerchöre lösen sich auf.
Ortner: Das ist leider so. Mein Befund ist der, und da gehe ich wieder auf das Bildungssystem los, dass es zu wenige Lehrer gibt. Der Lehrberuf ist weiblich geworden, und das wirkt sich fatal auf die Gesellschaft aus. Es müssen natürlich Frauen, aber auch viel mehr Männer unterrichten. Das ist nicht frauenfeindlich, sondern eine Notwendigkeit. Unterrichten ist ja lustig, ist eine Lebensqualität. Als gemischte Schulen aufkamen, war man entsetzt, aber es war gut! Mädchen und Buben müssen miteinander aufwachsen, nicht isoliert.
Was lieben Sie ganz persönlich an der Chorleitung?
Ortner: Menschen zusammenzubringen, mit ihnen zu arbeiten, Musik zu machen. Das gilt natürlich auch für das Instrumentale. Gemeinsam ein Stück zu erarbeiten und so darstellen, dass die Zuhörer die Musik und ihre Botschaft verstehen. Das ist für mich faszinierend, das ist mein Leben. Zum Unterschied etwa zu einem Organisten, der einsam und allein an der Orgel sitzt und dort glücklich ist – mein Königreich sind die Menschen, mit denen ich Musik mache.
Das Gespräch führte Ursula Strohal