Tiroler Autor Gstrein

Vage Wahrheiten

Aus Gerüchten werden Gewissheiten und aus Klatsch möglicherweise Katastrophen: Norbert Gstrein erzählt in „Eine Ahnung vom Anfang“ von einem, der abdriftet.

Von Joachim Leitner

Innsbruck –An einem Provinzbahnhof wird eine dilettantisch zusammengebastelte Bombe gefunden. Daneben liegt ein Zettel. „Kehret um!“, steht da. Aber wirklich ernst nimmt die Warnung niemand. „Ein Lausbubenstreich“, doziert der Dorfpolizist in einem Tonfall, der keine Verben zulässt. Auf den in der Lokalzeitung abgedruckten Bildern des Täters glauben viele, einen ortsbekannten Sonderling zu erkennen. An den Stammtischen wird der Verdacht schnell Gewissheit. Nur dieser „Unglücksvogel“ kann für den schlechten Scherz verantwortlich sein. Auch der eigenbrötlerische Lehrer, dessen Lieblingschüler der mutmaßliche Täter einst war, sieht sich mit Verdächtigungen konfrontiert. Er soll noch vor Kurzem Kontakt mit besagtem Daniel gehabt haben. Und überhaupt: Gab es nicht schon vor Jahren das Gerücht, dass das Verhältnis zwischen Lehrer und Schutzbefohlenem unstatthaft eng gewesen sei, dass im Haus des Lehrers nicht nur gemeinsam gelesen und miteinander diskutiert wurde? Selbst dem Lehrer kommen Zweifel: Hat Daniel­s zunehmende Radikalisierung, sein Abdriften in religiösen Wahn, damals, während eines gemeinsam verbrachten Sommers vor über zehn Jahren, begonnen?

Norbert Gstreins neuer Roman „Eine Ahnung vom Anfang“, der heute erscheint, rückt allerdings weniger das Werden des Fundamentalisten ins Zentrum, als die zweifelnde Erinnerungsarbeit des Lehrers. Er tastet sich an die Ereignisse jenes Sommers heran, als er zwei Herumtreibern, Daniel und dessen Freund Christoph, anbot, ihm bei der Instandsetzung einer alten Mühle zur Hand zu gehen und so vor allem für Danie­l nach und nach zum Mentor wurde. Kann das, was mit harmlosen Lektüreempfehlungen und ziellosem Philosophieren in der Sommersonne begann, mit einem unscharfen Fahndungsfoto enden? Oder wirkt die erinnerte Ereignis­folge nur in der Rückschau plausibel? Ist sie wirklich mehr als ein aus beliebigen Versatz­stücken zusammengezimmertes Konstrukt, das beständig Gefahr läuft, in sich zusammenzufalle­n?

Mit der Frage „Was ist die Wirklichkeit und wie entstehen vermeintliche Wahrheiten“ beschäftigte sich der 1961 in Mils bei Imst geborene Gstrein bereits in seinen Romanen „Die englischen Jahre“, „Das Handwerk des Tötens“ und zuletzt in „Die ganze Wahrheit“. Auch „Eine Ahnung vom Anfang“ ist eine vielschichtige Auseinandersetzung mit diesem Thema. Denn letztlich geht es auch hier um scheinbare Gewissheiten, die zusehends brüchiger und fragwürdiger werden. Um ein Geschehen, das immer schon eine Geschicht­e ist – und das dementsprechend auch ganz anders erzählt werden könnte. Folglich ist alles, was Gstrein erzählt, Möglichkeitsform, ein nicht enden wollendes „Was wär­e, wenn ...“ und „Könnte es nicht sein, dass ...“. Immer wieder kehrt Gstrein zu den Ereignissen „damals im Sommer“ zurück, wo der in Ichform erzählende Lehrer den Anfang wähnt, fügt neue Details hinzu und stellt bereits Etabliertes in Frage.

Der Roman kreist um einen abwesenden Protagonisten. Daniel, der ehemals Hochbegabte auf Abwegen, kommt nicht zu Wort. Schon in seiner Jugend war er Projektionsfläche für die Begehrlichkeiten von Erwachsenen: Der Pfarrer sah ihn schon auf dem Weg zum Priesterseminar und nahm ihn mit auf eine Pilgerfahrt ins Heilige Land. Ein seltsamer „Sektenmensch“ aus Übersee versprach ihm die Rettung aus aller irdischen Pein und auch der Lehrer erhoffte sich insgeheim, dass der Bub jene Leerstelle ausfüllt, die der Suizid seines Bruders in sein Leben riss. Und jetzt, als von der öffentlichen Meinung vorverurteilter Beinahe-Terrorist, wird Daniel zum Opfer des Dorfklatsches.

Die Erkenntnis, dass man nicht mehr als 22 und zwei Buchstaben braucht, um eine Welt zu erschaffen, habe ihn zum Schriftsteller werden lassen, sagte Gstrein kürzlich in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk. Mit „Eine Ahnung vom Anfang“ stellt er ein weiteres Mal unter Beweis, dass man die Welt mit ebenso vielen Buchstaben auch ins Wanken bringen kann.

Norbert Gstrein. Eine Ahnung vom Anfang. Hanser Verlag, 350 Seiten, 22,60 Euro.