Absage an den Palästinenserstaat
Die internationale Diplomatie inszeniert Gespräche über eine Zweistaatenlösung im Nahen Osten, obwohl diese längst nicht mehr realistisch ist. Das sagte der Nahost-Experte Helmut Krieger im TT-Interview.
Im Nahen Osten hat eine weitere Gesprächsrunde begonnen – mit dem offiziellen Ziel, einen Palästinenserstaat zu schaffen. Ist das überhaupt realistisch?
Helmut Krieger: Das hängt davon ab, was man unter einem palästinensischen Staat versteht. Meint man mit der Zweistaatenlösung einen unabhängigen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967, dann kann ich Ihnen sagen, dass die derzeitigen Vorverhandlungen nicht dazu führen werden.
Was steht dagegen?
Krieger: Wir hatten in den vergangenen 20 Jahren unendlich viele Verhandlungen und Sondergesandte, die von Jerusalem nach Ramallah gependelt sind. Warum hat das nie zu dem geführt, was als Ziel propagiert wurde? Dagegen stehen unter anderem die israelische Besatzung und die Siedlungsexpansion. Wenn ich mir diese Entwicklung anschaue, dann sehe ich nicht, wie plötzlich die politischen Voraussetzungen für einen palästinensischen Staat hergestellt werden sollten.
Damit meinen Sie die politische Lage in Israel ...
Krieger: Alle israelischen Regierungen der letzten 20 Jahre haben den systematischen Ausbau der Siedlungen forciert. Wie kann man einerseits Land nehmen und andererseits Verhandlungen darüber führen, dieses Land zurückzugeben?
Warum hält die internationale Diplomatie dann an dieser Vision fest?
Krieger: Ich würde das nicht mehr als Vision verstehen, sondern als eine Form der Inszenierung, über eine vermeintliche Lösung zu sprechen. Allen Beteiligten ist das vollkommen klar. Ihr Problem besteht aber darin: Welche Alternativen gibt es, um den Konflikt zu regulieren? Solange diese Alternativen auf politisch-diplomatischer Ebene nicht forciert werden, so lange hält man an etwas fest, was schon lange tot ist.
Was sind die Alternativen zur Zweistaatenlösung?
Krieger: Etwa die Einstaatenlösung, die mittlerweile verstärkt in intellektuellen und akademischen Zirkeln diskutiert wird. Gemeint ist, dass alle, die in dem Gebiet leben, gleiche Rechte und gleiche Pflichten haben. Das setzt natürlich voraus, zu einem gemeinsamen Narrativ über die Geschichte des Konflikts zu kommen und das sehe ich in der heutigen politischen Situation nicht. Ich befürchte, dass eine Einstaatenlösung nur nach einer weiteren militärischen Eskalation verwirklicht werden könnte.
Erwarten Sie einen weiteren Palästinenseraufstand (Intifada), wenn die Zweistaatenlösung zerbröselt?
Krieger: Wir haben eine permanente Eskalation niedriger Intensität im Gazastreifen – mit Raketenbeschuss auf Israel und israelischen Luftangriffen. Einen allgemeinen Aufstand im Westjordanland versucht man mit Entwicklungsgeldern abzudämpfen. Die Geber pumpen Milliarden Dollar hinein, die letztlich in den Budgets der Autonomiebehörde versickern. Damit wird ein Beamtenapparat geschaffen, der ein Interesse an der Aufrechterhaltung der eigenen Position hat. Dass diese Situation langfristig nicht stabil sein kann, erscheint mir klar. Aber es ist schwer zu prognostizieren, was wann wie passieren wird. Das hängt von vielen Faktoren ab.
Im Zusammenhang mit der Einstaatenlösung heißt es immer, dass Israel dann nicht mehr der Staat der Juden wäre. Würden sich die Israelis auf Bürgerrechte für alle Palästinenser einlassen?
Krieger: Das würde grundsätzlich an zionistischen Programmatiken rütteln und ist eine ideologische und politische Auseinandersetzung – auch eine geopolitische im Kontext der arabischen Umbrüche. Ich sehe nicht, dass die heutigen politischen Eliten in Israel ein Konzept in Gang setzen könnten, das staatsbürgerliche Rechte für alle in diesem Gebiet lebenden Menschen vorsieht. Die Besatzung scheint für den israelischen Staat der gangbarere Weg zu sein.
Es wird also weder einen Palästinenserstaat geben noch werden alle Palästinenser Bürgerrechte in Israel erhalten? Stattdessen wird der Status quo so lange wie möglich beibehalten?
Krieger: Ja, zumindest aus der Sicht der politischen Eliten in Israel. Historisch wissen wir, dass staatsbürgerliche Rechte nicht einfach gewährt werden, sondern auf verschiedene Weise errungen werden müssen. Die Frage wird also sein, inwiefern soziale und politische Bewegungen in den palästinensischen Gebieten die Bedeutung von staatsbürgerlichen Rechten als primären Fokus ihrer Auseinandersetzung wählen. Ich sehe das momentan noch nicht.
Das Gespräch führte Floo Weißmann