Freizeit

Ein Benehmen zum Schämen

Indiskret, laut und ichbezogen. Menschen gehen immer respektloser miteinander um, klagen die Buchautoren von „Benehmt euch!“. Findet tatsächlich ein Sittenverfall statt?

Von Nicole Strozzi

Innsbruck –Ich sitze im Bus. Den Mann vor mir kenne ich nicht. Dennoch weiß ich, wo er arbeitet, wie viel er verdient und dass seine Frau mit den Schwangerschaftshormonen zu kämpfen hat. Will ich das wissen? Nein. Aber was bleibt mir übrig? Der Mann brüllt dermaßen laut in sein Handy, dass jeder im Bus genötigt ist, über sein Privatleben Bescheid zu wissen. Die Journalisten Stefan Gärtner und Jürgen Roth würden den Lauttelefonierer als „Handyterroristen“ bezeichnen.

In ihrem neuen Buch „Benehmt euch!“ gehen die beiden Deutschen hart mit der Gesellschaft ins Gericht. Sie sagen, eine Verrohung der Sitten greife unaufhaltsam um sich. Seien es Pöbeleien im Straßenverkehr, Drängeleien an der Supermarktkasse oder Geruchs- oder Lärmbelästigungen im Bus oder Zug. Menschen gingen immer respektloser miteinander um. Keiner halte sich mehr mit Nettigkeiten auf. Es gebe keine diskreten Lebensbereiche mehr. Krach, Krach, Krach sei alles, was man hört.

Doch leben wir tatsächlich in einer Gesellschaft, in der Werte wie Respekt und Höflichkeit keinen großen Stellenwert mehr haben, in der nur noch das eigene Ich zählt und die Ellenbogen ausgefahren werden?

Wir fragen nach bei Norman Schmid vom Österreichischen Verband der Psychologen. „Also von einem Sittenverfall kann man nicht sprechen. Es gibt heute genauso respektvolle und höfliche Menschen. Aber sicher hat es in der heutigen Gesellschaft eine Veränderung der Werte gegeben. In erster Linie geht es um den Niedergang von blindem Autoritätsgehorsam“, antwortet der Psychologe aus St. Pölten. Die Jugend von heute sei selbstbewusster erzogen worden, denke an die eigenen Bedürfnisse und lasse sich nichts gefallen. Früher seien automatisch alle Älteren Respektspersonen und „von Haus aus gescheiter“ gewesen. Das heißt laut Schmid aber nicht, dass Jugendliche heutzutage weniger höflich sind. Nur fordern sie ein, dass sich Mitmenschen auch respektvoll gegenüber Jüngeren benehmen. „Wenn ein Lehrer andauernd schreit, verliert er diesen Respekt sehr rasch“, weiß der Experte.

Eltern und Lehrer, die eine wichtige Vorbildrolle übernehmen, müssten heutzutage schon sehr selbstsicher sein. Nicht zuletzt, weil die Jugend heute vieles besser kann. Man brauche nur an die moderne Technik zu denken. Aber man dürfe nicht nur die Jugendlichen zur Verantwortung ziehen. „Auch Erwachsene haben oft zu wenig Respekt vor Jüngeren und schimpfen, sie seien zu laut und unmöglich, und vergessen dabei, dass sie selbst einmal Rebellen waren“, erklärt Schmid. So gebe es Missverständnisse in beiden Richtungen.

Für die Buchautoren Gärtner und Roth liegen die Ursachen für die „Risse in der Gesellschaft“ einerseits im modernen Konsum und in der Geldgier, die stumpf und rücksichtslos machten. Zitat: „Und so lassen sich alle, vom Rentner bis zum Kleinkind, immer weiter in einen Statuswettkampf verstricken, in dem derjenige weiterkommt, der keine Rücksichten nimmt.“ Andererseits sei das Übel aber auch in der „Verblödung der Menschheit“ zu suchen. Die Kommunikation, die über das Internet abläuft, und TV-Castingshows, die bereits Jugendlichen vermitteln, dass es nur um das eigene „Überleben“ geht, würden das Ihrige dazu beitragen.

Weiters würden die Menschen immer infantiler werden: „Ausgestattet mit Mitteilungsdrang gegenüber Fremden, Indiskretion, einem gewissen Zeigestolz und dem Hang, seinen Spiel- und Zerstreuungsbedürfnissen zu fast jeder Zeit und ohne Rücksicht auf die Umgebung nachzugehen.“

Psychologe Schmid sieht das etwas differenzierter. In ihrer Streitschrift wollten die Autoren natürlich Aufregung erzeugen und seien über das Ziel hinausgeschossen. „Natürlich, Castingshows, die im Moment gehypt werden, fördern das Ich-Denken, aber es gibt auch andere Formate, die das Miteinander in den Mittelpunkt stellen. Auch diese werden gut angenommen“, ist sich der Experte sicher. Leider liege die Grundtendenz in der Menschheit darin, sich leichter auf das Negative zu fokussieren.

Doch es finde durchaus eine Gegenbewegung statt. Viele hätten Sehnsucht nach mehr Achtsamkeit und Ruhe, weiß der Psychologe und Buchautor („Mein Weg in die Entspannung“). Vielfach wird schon von einer „neuen Nettiquette“ gesprochen. Denn eines darf man nicht vergessen: Nachhaltig gesehen bringt Höflichkeit viel. Denn wer weiß: Vielleicht hilft mir gerade der Mensch später einmal weiter, dem ich heute respektvoll begegnet bin? Gutes Benehmen hat noch keinem geschadet. Am besten, man probiert es einfach aus.

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