Musik

Man muss die Tempi fühlen

Rudolf Buchbinders Beethoven und Schubert, neue Tempi-Diskussion.

Von Ursula Strohal

Innsbruck –Kein Orchester, dem man ins Eingeweide schaut, keine pianistisch flinken Finger, weder Frack noch Publikum. Die großartige Beethoven-Begegnung, die Rudolf Buchbinder 2011 in Wien gelang, dirigentenlos mit den Philharmonikern verbunden, ist nun nach der DVD endlich auf CD erschienen (Sony). Drei Scheiben lang nur hören. Die fünf Klavierkonzerte in schlafwandlerisch sicherer Balance als ständiger Grenzgang zwischen symphonischem und kammermusikalischem Musizieren.

Es beginnt schon bei der Orchestereinleitung zum ersten, noch mozartnah begriffenen Konzert (das eigentlich als zweites entstand), wenn das Orchester Akzente setzt, die Buchbinder dann am Klavier aufnimmt. Es ist insgesamt ein gelöstes, intimes Musizieren, klar, unverzärtelt, eng verzahnt im Geben und Antworten der Partner, überraschend in Nuancen und Gewichtungen. Mit Beethovens energischem Zugriff, seinen Härten und der Intensität seiner Lyrik. Buchbinder auf seinem Beethoven-Zenit, und die Philharmoniker geben ihm alles (Sony).

In Augenblicken nimmt er Beethovens Schroffheit hinüber zu Schubert, auch die Tiefendimension und die Abstinenz alles Heimeligen. Die neue Schubert-CD (Sony) spielte Buchbinder heuer ein, mit den vier Impromptus op. 90 D 899 und der letzten Klaviersonate, B-Dur, D 960. Sie ist aus Farbe und Empfindung gestaltet, mit selbstvergessener Melancholie und aufflammenden Verzweiflungsmomenten, Innigkeit und harten Schlägen. Auch die Impromptus sind fern Wienerischer Rührseligkeit. Das 4. Stück entsteht in dunkler Depression, und der Mittelteil des Es-Dur-Stückes bricht in das fließende Perlen des Beginns nicht als Abwechslung, sondern als Drama ein.

Zurück zu Beethoven: Ende der 1970er Jahre wurde der Niederländer Willem Retze Talsma in Innsbruck in seiner „Entmechanisierung der Musik“ unterstützt. 1980 erschien im Thaurer Verlag Wort und Welt sein Buch „Wiedergeburt der Klassiker“. Es geht um Tempofragen und das in Beethovens Zeit entwickelte Mälzel-Metronom, ein Pendel als Taktschläger. Als Einheit gibt Mälzel den Pendelausschlag in nur eine Richtung an. Talsma meint, die Metronom-Angaben bezögen sich auf die ganze Schwingungsperiode, also die Hin- und Herbewegung. Das verlangsamt das Tempo entscheidend.

Der niederländische Pianist und Dirigent Harke de Roos ist, angeregt durch Talsma, der Meinung, dass Beethovens wenige, zum Teil verrätselte Metronom-Angaben falsch gelesen werden. Mit den Wiener Symphonikern hat er Beethovens Zweite Symphonie in D-Dur, op. 36, in den vermeintlichen Ur-Tempi eingespielt (Gramola: „Van Beethoven Code“), die von einem Drittel bis zu einem halben Metrum der heute üblichen Aufführungspraxis reichen.

Aufflammende Diskussion eines alten Themas. Beethoven hielt nicht viel vom Metronom: „Es ist dummes Zeug, man muß die Tempos fühlen.“ Was wiederum ganz und gar zurückführt zu Rudolf Buchbinder.