Wiener Festwochen: Phänomenale „Winterreise“ durch Welt und Kunst
Wien (APA) - Zeitweise war es zu viel. Dann war man überfordert von der Aufgabe, vier großen Künstlern gleichzeitig zu folgen, zuzusehen und...
Wien (APA) - Zeitweise war es zu viel. Dann war man überfordert von der Aufgabe, vier großen Künstlern gleichzeitig zu folgen, zuzusehen und zu hören, zu fühlen und zu denken. Immer wieder führte diese „Winterreise“ bei hochsommerlichen Außentemperaturen in eine düstere Seelenlandschaft, ein kaltes Totenreich, aus dem keine Wiederkehr möglich ist. Ein Endpunkt des Lebens als Höhepunkt der Wiener Festwochen.
Der 24-teilige Zyklus Franz Schuberts versteht es eigentlich immer zu beeindrucken. Das Zusammenspiel der Texte Wilhelm Müllers mit den Melodien Schuberts zählt zu den Meisterwerken der Liedkunst. Mit derartiger Hingabe wie gestern, Montag, in der Halle E des Museumsquartiers wurde er jedoch noch selten musiziert. Festwochen-Intendant Markus Hinterhäuser ließ nach dem Ustwolskaja-Schwerpunkt auch bei seinem zweiten Auftreten als an dem von ihm selbst programmierten Festival mitwirkender Künstler keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die beste Besetzung war, die man kriegen konnte. Mit größter Zurückhaltung, extremen Pianissimi, Tempodrosselung bis knapp an den Stillstand, Nachschwingen und Mitatmen mit Bariton Matthias Goerne legte er am Klavier die Grundlage für einen Abend, der auch ganz ohne Visuals außergewöhnliche Wirkung erzielt hätte.
Goerne ließ zwar an Wortdeutlichkeit einiges zu wünschen übrig, involvierte sich aber mit jeder Facette seiner Persönlichkeit. „Fischer-Dieskau hört sich mit seiner überdeutlichen Aussprache an, als wollte er sicherstellen, dass man ja kein Wort der Gedichte verpasst“, hatte Kentridge im APA-Interview den Vergleich zu frühen Hörerfahrungen gezogen, als sein Vater immer wieder die „Winterreise“-Aufnahme von Fischer-Dieskau und Gerald Moore hörte. „Ich mag die rauere, direktere Art, wie Matthias das singt. Er erlaubt sich viel mehr Emotion dabei.“ Dass diese Art der Interpretation perfekt war, bewies sich in der Fortdauer der 80 Minuten immer mehr, als sich Goerne zunehmend vom Klavier wegbewegte und den Bühnenraum eroberte, vom Sänger zum Mitspieler wurde, der teilweise in den Filmen aufzugehen schien, teilweise selbst zum Betrachter wurde.
Die Bühne (Ausstattung: Sabine Theunissen) war eine Art Zeichenstudio, an dessen Wänden Blätter befestigt waren. Zum Teil waren sie im Begriff, zu Boden zu fallen und bewegten sich bei manchen Projektionen auch wie von Geisterhand erfasst. Die 24 begleitenden Animationsfilme, die Kentridge aus seinem bisherigen Oeuvre entnommen, sie bearbeitet und teilweise mit neuem Material ergänzt hatte, bewiesen durchaus Eigenständigkeit und erzählten auch keine platte „Story“, sondern lieferten Fragmente und Collage-Elemente, die in diesem „Trio für Sänger, Pianist und Filmprojektor“ immer wieder Kreuzungspunkte zu den Liedtexten ergaben. Die Hauptrolle spielte weniger der Künstler - obwohl sich Kentridge immer wieder als Selbstporträt laufend, gehend, schlafend oder denkend in seine Filme eingeschrieben hat - als die Kunst selbst: Blätter und Tinte entwickelten ein faszinierendes Eigenleben, erzählten ihre eigenen, eigenwilligen Geschichten, öffneten Assoziationsräume und drangen tief ins Unbewusste ein.
Bäume und Vögel bevölkern die Landschaften, mit denen man es im Laufe dieser „Winterreise“ zu tun bekommt, ebenso wie seltsame technische Apparaturen. Es wird immer dunkler und düsterer. An Bäumen hängen Gehängte, die in den Totenacker eingehen. Soldaten aus historischen Filmdokumenten des Ersten Weltkriegs hasten schemenhaft durchs Bild: „Eine Straße muß ich gehen, die noch keiner ging zurück.“ Und am Ende, wenn der Leiermann quälend langsam sein Instrument dreht, und das Publikum mit Hinterhäuser und Goerne immer wieder den Atem anhält, ziehen schwarze Gestalten tief gebeugt vorüber. Die Menschheitsgeschichte ist auch eine Kolonialgeschichte, eine Geschichte von Unterdrückung und Leid. Das erzählt sich an diesem beeindruckenden Abend ganz ohne Zeigefinger. Totenstille und danach großer Jubel.
(S E R V I C E - „Winterreise“, Halle E im Museumsquartier, noch am 12., 14., 15.6., 19.30 Uhr, Publikumsgespräch am 12.6. im Anschluss an die Vorstellung; „In Praise of Shadows. Drawing Lesson One“ , Halle E, 10.6., 19.30 Uhr, „A Brief History of Colonial Revolts. Drawing Lesson Two“, Halle E, 11.6., 19.30 Uhr, www.festwochen.at)