Ukraine - Die tägliche Todesangst in Slawjansk

Slawjansk (APA/Reuters) - Nina Moisejewa geht durch die Innenstadt von Slawjansk. Bepackt mit zwei Einkaufstüten. Tränen laufen ihr die Wang...

Slawjansk (APA/Reuters) - Nina Moisejewa geht durch die Innenstadt von Slawjansk. Bepackt mit zwei Einkaufstüten. Tränen laufen ihr die Wangen herunter. „Warum müssen meine Kinder und ich ganz genau wissen, wann das tägliche Artilleriefeuer anfängt?“ Eine Antwort muss sie nicht geben. Die Lebensgefahr in der Hochburg pro-russischer Separatisten im Osten der Ukraine ist offenkundig.

In einem Sportgeschäft stehen Dutzende verkohlter Fahrräder im Schutt des ausgebrannten Ladens - Folgen eines Granattreffers. Die Spuren der seit einer Woche andauernden heftigen Kämpfe zwischen Separatisten und regierungstreuen Truppen haben sich im Stadtbild sprichwörtlich eingebrannt. Auf den Straßen liegen Wracks von Fahrzeugen, die noch aus der Sowjet-Zeit stammen. In den Außenbezirken sind reihenweise Fenster wegen Detonationen zersplittert.

In der Innenstadt versuchen einige Händler weiter, den Anschein von Normalität zu wahren. Sie haben ihre Läden geöffnet. Von den Stadtgrenzen her ist das dumpfe Grollen der Granaten zu hören. Vor Kurzem schlenderten noch viele Einwohner allen Kämpfen zum Trotz durch die Einkaufszone - wie zu Friedenszeiten. Nun sind aber nur noch eine Handvoll Menschen zu sehen, die sich ins Freie wagen und sich dem mit Sandsäcken geschützten Rathaus nähern.

Offiziell bestreitet die ukrainische Armee, Wohngebiete zu beschießen. Eine Frau, die nur Tatjana genannt werden will, glaubt das aber nicht. Sie sei dabei gewesen, als das Sportgeschäft getroffen worden sei: „Menschen brannten, sie lagen auf der Straße. Hier lag einer“, sagt sie und deutet auf einen Schutthaufen, unter dem der Tote begraben gewesen sein soll. Ihre Hände sind schmutzig, es gibt kein fließend Wasser.

Die ukrainische Armee hat seit der Wahl des neuen Präsidenten Petro Poroschenko den Ring um die 130.000-Einwohner-Stadt enger gezogen. Das neue Staatsoberhaupt hat ein energisches Vorgehen der Armee gegen die Rebellen im Osten angeordnet, um dort die Kontrolle zurückzugewinnen.

Dieser „Anti-Terroristen-Einsatz“, wie er ihn bezeichnet, ist für seine Kommandeure ein Drahtseilakt. Da die Separatisten keine Anstalten machen, die Waffen niederzulegen, müssen sie mit Gewalt dazu gezwungen werden. Die Kämpfe bergen aber die Gefahr, dass auch Zivilisten getötet werden. Das könnte Russland dazu bringen, doch noch in den Osten der Ukraine einzumarschieren - mit der Begründung, Landsleute dort schützen zu müssen. Poroschenkos wichtigstes Ziel ist es, ein Auseinanderbrechen der Ukraine zu verhindern, die zwischen dem pro-europäischen Westen und dem russland-freundlichen Osten gespalten ist. Seine Gegner in Slawjansk sind maskierte Männer in Tarnanzügen, bewaffnet mit Sturmgewehren und Granatwerfern - die Kiewer Regierung ist in ihren Augen illegitim.

Die Stadt ist von strategischer Bedeutung, denn sie liegt im Zentrum des kohlereichen Donezbeckens und ist der Knotenpunkt der drei Regionen im Osten der Ukraine. Die Kämpfe haben viele Menschen aus Slawjansk vertrieben. Einwohner schätzen, dass ein Drittel der Stadtbevölkerung geflohen ist.

Journalisten müssen auf dem Weg in die belagerte Stadt einen Checkpoint der Armee passieren. In Gegenrichtung wartet ein steter Strom von Frauen und Kindern auf die Erlaubnis, Slawjansk verlassen zu dürfen. Männer werden zurückgehalten, denn die ukrainische Armee fürchtet, sie könnten sich in anderen Landesteilen den Rebellen anschließen. „Vergangene Woche wollten wir alle zusammen Slawjansk verlassen“, berichtet ein Markthändler. „Aber das ukrainische Militär hat mich nicht durchgelassen. Die denken, ich könnte ein Terrorist sein“, sagt der 34-Jährige, der mit seinen beiden Töchtern umkehren musste.

Die Organisatoren von Konvois mit Flüchtlingen haben bei der ukrainischen Armee zumindest erreicht, dass das Feuer eingestellt wird, wenn die Busse die Stadt verlassen. Sobald sie außer Sichtweite sind, wird der Artillerie-Beschuss fortgesetzt. Nina Moisejewa, die ihre Einkaufstüten langsam nach Hause schleppt, kennt das tägliche Bombardement genau. Sie hat die Zeiten verinnerlicht: „Wir wissen, wann wir es jeden Morgen erwarten müssen: Zwischen 08.00 und 09.00 Uhr.“