Weltpolitik

Schlüssel für Europas Sicherheit? Das deutsch-russische Verhältnis

Die Verbindungslinien zwischen Moskau und Berlin bestimmen seit Jahrzehnten die Politik Europas. Eine Beziehung, die durch die Kriegsjahre des 20. Jahrhunderts oft eindimensional wahrgenommen wird.

Von Michael Gehler

Die deutsch-russische Geschichte ist keinesfalls nur eine Kette kriegerischer Auseinandersetzungen gewesen. Der Antikommunismus des 20. Jahrhunderts und der Kalte Krieg (1945-1990) in Europa haben den Blick auf das facettenreiche Bild dieser Beziehungen verstellt. Diese waren von Kulturaustausch und engen persönlichen Verbindungen geprägt. In konfliktreichen Zeiten spielten Ausgleich und Neutralität stets eine Rolle. Ein Ideengeber von Zar Peter dem Großen war der deutsche Philosoph Leibniz, Begründer der russischen Akademie der Wissenschaften. Katharina II., die Große, aus dem Hause Anhalt-Zerbst, festigte die russische Großmachtposition und machte den Hof von St. Petersburg zu einem kulturellen Mittelpunkt in Europa.

Schicksalsjahr 1914

In den Befreiungskriegen gegen Napoleon (1813-1815) schlossen der russische General von Diebitsch, ein gebürtiger Schlesier, und der preußische General von York in Tauroggen ein Neutralitätsabkommen, das eine enge diplomatisch-politische Kooperation in der dann folgenden „Heiligen Allianz“ schuf, aber auch zu Lasten Polens ging. Im Krimkrieg (1853-1856) verhielt sich Preußen neutral. Bismarck organisierte den Berliner Kongress (1878), der nach dem Wiener Kongress (1814/15) eine stabile Ordnung auf dem Kontinent zu schaffen versuchte. Die „Rückversicherungsverträge“ zwischen dem Deutschen Reich und Russland wurden wiederholt verlängert. Fehlender Zugang zu den Meerengen und unterschiedliche Interessen am Balkan führten dann beide in den Ersten Weltkrieg. 100 Jahre lang war kein Schuss zwischen Deutschen und Russen gefallen. Seit Sommer 1914 waren sie im Krieg, den beide verlieren sollten. Der russische und deutsche Sozialdemokrat Parvus Helphand organisierte 1917 für das Auswärtige Amt die Einreise Lenins aus der Schweiz durch das Deutsche Reich nach Russland. Während Parvus damit das ihm verhasste Zarenregime stürzen wollte, unterstützten die deutschen Stellen den revolutionären Umsturz, um einen Waffenstillstand mit Russland zu erzwingen. Der Oktoberputsch der Bolschewiki wurde mit deutscher finanzieller Hilfe möglich, konnte aber die militärische Niederlage des österreichisch-ungarischen und des deutschen Kaiserreichs nicht mehr abwenden. Der Friede von Brest-Litowsk (1918) kam auf Druck der Obersten Heeresleitung zustande. Die Bolschewiki hatten ihrem Volk „Brot und Frieden“ versprochen. Der Waffenstillstand, den das Deutsche Reich mit den Entente-Mächten schließen musste, annullierte dieses Diktat von Brest-Litowsk für die Russen. Die Ideen von Marx und Engels dienten bald darauf als deutsche Ideologie-Exporte für die 1922 gegründete Sowjetunion – ein Vorgang mit welthistorischen Folgen.

Trauma des Westens

Der im gleichen Jahr geschlossene Vertrag von Rapallo zwischen Berlin und Moskau sollte die internationale Isolation Deutschlands und Russlands durchbrechen und ihre Verhandlungsposition gegenüber dem Westen stärken. Man verzichtete auf Kontributionen und Reparationen. Die Reichswehr wurde auf russischem Territorium ausgebildet. Der Rapallo-Komplex wurde zum westlichen Trauma. Es war die Angst vor einem deutsch-russischen Zusammengehen. Der Berliner Vertrag 1926 bestärkte sie: Er sicherte der Sowjetunion zu, im Falle eines Kriegs mit einem Drittstaat neutral zu bleiben. Das bezog sich v. a. auf einen möglichen Krieg mit dem nach 1918 aus deutschen und russischen Gebieten gegründeten Polen und der Sowjetunion. Der sowjetische Außenminister Molotow bezeichnete es 1939 als „unschönes Produkt des Versailler Vertrages“, als der Hitler-Stalin-Nichtangriffspakt geschlossen wurde, jener auf 10 Jahre befristete Vertrag, der ein Angriffspakt auf Polen war. Er sicherte zudem Moskau die Vormachtstellung im Baltikum und ermöglichte die Teilung Polens. Neben der Nichtangriffsklausel sah der Vertrag auch die gegenseitige Neutralität im Kriegsfalle der anderen Partei vor. Hinzu kamen die Zusatzprotokolle des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages vom September 1939. Die Neutralität der Sowjetunion und die Lieferung kriegswichtiger Rohstoffe an NS-Deutschland waren Voraussetzungen für die erfolgreichen Feldzüge der Wehrmacht 1939/40. Der Pakt ermöglichte auch die Kooperation zwischen der NKWD und der Gestapo, d. h. die Auslieferung deutscher und österreichischer Antifaschisten aus der UdSSR an Hitler. Stalin wollte Deutschland mit den Westmächten in einen langen Krieg verwickelt sehen, was allerdings fehlging. Langfristig hegte er auch Angriffspläne gegen NS-Deutschland. Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 verlor der teuflische Pakt der beiden Diktatoren seine Basis. Bis heute sind die russischen Opfer des deutschen Expansions- und Raubkrieges nicht exakt bezifferbar. Dennoch stammte aus dieser Zeit das Stalin-Wort „Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk aber bleibt bestehen.“ 50 Jahre lang leugnete Moskau die Existenz der Geheimabmachungen mit Hitler aus dem Jahr 1939. Erst Gorbatschow bestätigte infolge eines Untersuchungsausschusses deren Echtheit. Stalin marschierte 1945 nicht in Deutschland ein, um eine DDR zu gründen. 1949 aus der Taufe gehoben, blieb sie ihm ein ungeliebtes Kind. 1952 schlug er vielmehr ein blockfreies, neutrales und geeintes Deutschland vor, um die Westintegration der Bundesrepublik und ihre NATO-Mitgliedschaft zu verhindern. Adenauer lehnte ab. Die Überwindung der deutschen Teilung war 1990 nicht allein mit den westlichen Siegermächten möglich. Der deutsch-sowjetische Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit (1991) diente der Aussöhnung, bedeutete im Konfliktfall wieder Neutralität und blieb auch nach dem Zerfall der UdSSR gültig.

Im Schatten der NATO

Nach Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Einheit stand das deutsch-russische Verhältnis im Schatten der für Moskau kritisch beäugten NATO-Ost-Erweiterung, weil diese als vorgeschobene strategische Verteidigungslinie bis in den russischen Kernsicherheitsbereich hineinreichte. Kooperationsabkommen der Russischen Föderation mit der EU konnten an diesem neuen Konfliktpotenzial nicht viel ändern. Moskau schien dabei weit mehr an einer intensivierten Annäherung gelegen als Brüssel. Der Rapallo-Komplex tauchte wieder auf, als Kanzler Schröder (1998-2005) einer Achse mit Moskau das Wort redete, aber auch schon im Zusammenhang mit Brandts Ostpolitik in den 1970er Jahren. Mit seinem spezifischen Verhältnis und den engen wirtschaftlichen Verbindungen zu Russland ist Deutschland der Schlüssel für eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung. Es muss trotz seiner NATO-Bindung zwischen Ost und West moderieren quasi wie ein Neutraler. Das fällt nicht immer leicht, weil man Neutralität als Mittel der Politik lange negiert hat. Eine Friedensordnung nicht gegen, sondern mit Russland ist die zukünftige Aufgabe einer gemeinsamen EU-Außenpolitik, ohne dabei Drittstaaten zu gefährden. Sie kann mit deutscher Unterstützung durch ein substanzielles Partnerschaftsabkommen mit Moskau als Äquivalent für das strittige Assoziationsabkommen mit der Ukraine gelingen. Die Russische Föderation wird allerdings nicht als Partnerin der EU zählen, solange sie nach außen bedrohlich und nach innen kolonial agiert.