Kapitän Casillas Sinnbild für Spaniens Demontage
„San Iker“ patzte bei der 1:5-Klatsche gegen die Niederlande gehörig. Dennoch wird Coach del Bosque wohl am Real-Goalie festhalten.
Salvador da Bahia – Bei Real Madrid ist er nur noch Teilzeitkraft, im Nationalteam hingegen die unumstrittene Nummer 1 - dann erlebte Iker Casillas beim 1:5 gegen die Niederlande zum WM-Auftakt den bittersten Abend im Trikot des Weltmeisters. Die Vorstellung des Teamkapitäns musste nach der Demontage als Symbol für Spaniens Niedergang herhalten. Im Regen von Salvador stehend, gab er am Ende eine traurige Figur ab.
Ancelotti nimmt Casillas aus der Schusslinie
Der Ruf als unfehlbarer „San Iker“ hatte schon zuletzt gelitten. Nicht nur bei seinen Club-Trainern Jose Mourinho und Carlo Ancelotti ist der „Heilige“ verstärkt in Ungnade gefallen, auch in den spanischen Medien häufte sich die Kritik. Die dürfte nach seinen Fehlern gegen die Niederländer weitergehen. Beim dritten Treffer ließ er sich von Robin van Persie - wenngleich auch etwas regelwidrig - wegbugsieren, das vierte Gegentor ging gänzlich auf seine Kappe.
Nach der schleichenden Demontage bei Real sehen Kritiker nun auch Casillas‘ unangetastete Position in der „Seleccion“ als gefährdet. Teamchef Vicente del Bosque dürfte seinen Kapitän aber nicht absägen. „Wenn eine Mannschaft verliert, dann ist nicht ein Spieler schuld, sondern das gesamte Team“, meinte Del Bosque. Casillas sei „am wenigsten“ für das Debakel verantwortlich zu machen. Die Alternativen stünden der 23-jährige David de Gea (1 Länderspiel) und Routinier Pepe Reina (32 Spiele) im Kader.
„Akzeptiere die Kritik“
Der 33-Jährige selbst wollte keine Ausreden suchen. „Ich war nicht auf dem Level, auf dem ich sein sollte. Ich akzeptiere die Kritik“, sagte Casillas nach seiner höchsten Pleite im Teamtrikot. Die war bis dahin ein 0:4 im Freundschaftsspiel gegen Portugal 2010. „Das war nicht unbedingt eines meiner besten Spiele“, sagte er weiter. Dabei war der gebürtige Madrilene noch 40 Minuten davon entfernt, den WM-Rekord von Walter Zenga zu brechen. Die 517 Minuten ohne Gegentor des Italieners aus dem Jahr 1990 bleiben weiter Bestmarke.
Der „Seleccion“ droht in Brasilien nun sogar der Totalabsturz. Im zweiten Gruppenspiel gegen die hoch eingeschätzten Chilenen ist ein Erfolg gefragt. Völlig zerknirscht präsentierte sich Del Bosque nach der höchsten Auftaktniederlage eines regierenden Weltmeisters in der 84-jährigen WM-Geschichte. Der 63-Jährige mochte keinen einzelnen Akteur an den Pranger stellen, man habe als Kollektiv versagt. „Es waren alle schwach und haben sich blamiert“, befand Del Bosque, der mentale Defizite ortete. „Ich bin bestürzt und enttäuscht, aber ich habe genug Erfahrung, diese Niederlage einzuordnen.“
Dabei war Spanien mit sieben Profis aus dem gegen die Niederlande gewonnenen Finale 2010 angetreten und durch einen Elfmeter von Xabi Alonso (27.) sogar in Führung gegangen. David Silva hätte für die danach bereits kräfteschonend agierende „Roja“ zum 2:0 nachlegen müssen, mit dem 1:1 durch Robin van Persie kippte die Partie aber völlig. Die niederländische Taktik ging gegen die vor allem in der Abwehr behäbigen Spanier voll auf.
Spanische Presse schonungslos
Die spanische Presse reagierte auf die höchste WM-Pleite seit einem 1:6 gegen Gastgeber Brasilien 1950 mit harscher Kritik an der Seleccion. „Totale Katastrophe“, titelte die „As“. Das Konkurrenzblatt „Marca“ schrieb von einer „weltmeisterlichen Demütigung“ und forderte das Team auf einer schwarz gehaltenen Titelseite unmissverständlich auf: „Bringt das wieder in Ordnung.“
Die Kritik traf neben Torhüter Casillas auch die Abwehr um Gerard Pique und Sergio Ramos, die sich vor allem von Doppeltorschütze Arjen Robben schwindlig spielen ließ. Bei weiten Bällen schien Spanien ebenso anfällig wie bei schnellen Gegenstößen. Auch das Mittelfeld mit Xavi, Andres Iniesta, Sergio Busquets, David Silva und Xabi Alonso konnte kaum Akzente setzen, Spaniens „tiki-taka“ blieb aus. Grundsätzlich mangelte es im Vergleich mit dem Gegner an Biss.
Kommt eine Veränderung
In Salvador setzte Del Bosque noch einmal auf das Nonplusultra der letzten Jahre. Jenes Gerüst, das von 2008 bis 2012 drei große Turniere in Serie gewinnen konnte und dabei in 19 Spielen nur sechs Gegentreffer erhalten hatte. Jetzt werden die Rufe lauter nach Konsequenzen. „Wenn jetzt keine Umstellung kommt, kann Spanien bald nach Hause fahren“, schrieb die „Marca“.
Die hoch dekorierten Spieler suchten nicht nach Ausreden. „Es ist die härteste Niederlage meiner Karriere“, gestand Xavi. Es sei ein schreckliches Spiel gewesen, ein Debakel. „Wir haben alles falsch gemacht“, meinte der 34-Jährige. Iniesta wollte den Blick nach vorne richten: „Wir müssen das Spiel analysieren, dann schnell vergessen und uns auf Chile konzentrieren. Wir müssen nun die nächsten zwei Spiele gewinnen.“
Man darf gespannt sein, wie Spanien den Schock in den nächsten Tagen wegstecken wird. Am Mittwoch gegen Chile steht der Weltmeister bereits mit dem Rücken zur Wand, denn die Südamerikaner haben nach dem 3:1 gegen Australien schon drei Punkte auf dem Konto. Die Angst geht um in Spanien, dass es die Mannschaft schon in der Gruppenphase erwischen könnte.
Oder schafft die zum WM-Start lahme „Furia Roja“ noch einmal ein Comeback, wie es vor vier Jahren in Südafrika gelungen war? Da unterlag Spanien zum Auftakt der Schweiz 0:1, danach folgten sechs Siege. Die Ausgangslage präsentiert sich jedoch anders als vor vier Jahren. Hatten die Spanier damals im Spiel gegen die Eidgenossen noch viel Pech, wurden sie nun von den Niederländern nach allen Regeln der Fußballkunst vorgeführt. (APA)