Terrorgruppe auf Expansionskurs: Kalifat in Syrien und Irak
Tausende Schiiten ziehen nach der Blitzoffensive der ISIL in den Kampf. Kurden übernehmen wichtigen Grenzposten zu Syrien.
Damaskus/Bagdad – Eine Kriegspartei aus Syrien erobert in wenigen Tagen große Teile des Iraks, führt strenge Gesetze aus den „glorreichen Zeiten des Kalifats“ ein und stößt in Richtung Bagdad vor. Nach kurzer Schockstarre regt sich der Widerstand - vor allem bei den Schiiten.
Sie fahren Pick-ups, haben moderne Waffen und sind in den sozialen Netzwerken des Internets aktiv - doch die Kämpfer der Terrorgruppe Islamischer Staat im Irak und der Levante (ISIL/ISIS) wollen eigentlich so leben, wie die Gläubigen zu den Zeiten des Propheten Mohammed. Sie haben ihre eigene Interpretation des Korans: eine barbarische.
Die im Syrien-Krieg mächtig gewordene jihadistische Brigade zieht auf Bagdad zu, versucht die Stadt zu umzingeln. Inzwischen ist der Überraschungsmoment vorüber - und Tausende schiitische Freiwillige machen sich bereit, den ISIL-Kämpfern entgegenzutreten. Denn dort wo die schwarze Fahne mit dem islamischen Glaubensbekenntnis weht, errichten die sunnitischen Extremisten ihr Terrorregime - zunächst im nordöstlichen Syrien, nun auch im Irak.
In der vor einer Woche eroberten Millionenstadt Mossul im Nordirak machten sich die ISIL-Milizionäre sofort ans Werk, ihre Ideologie umzusetzen. Zu den „glorreichen Tagen des Kalifats“ wollen die Männer in Kampfmontur zurück - zumindest zu dem, was sich die Extremisten unter der damaligen Herrschaft der Nachfolger des Propheten vorstellen.
Sie errichteten ein Kommandozentrum und veröffentlichten ein Kommunique mit neuen Gesetzen: Der Konsum von Drogen, Alkohol und Zigaretten ist fortan verboten, außerdem Versammlungen und das sichtbare Tragen von Waffen. Dieben soll die Hand abgehackt werden. Frauen müssen weite Kleidung tragen und sollen ihre Häuser nur verlassen, wenn es absolut notwendig ist. Die Bürger werden aufgefordert, fünfmal täglich ihr Gebet zu verrichten.
Wie schon zuvor aus Syrien, tauchen nun auch aus dem Irak Bilder von öffentlichen Hinrichtungen im Internet auf. ISIL verbreitet regelmäßig Propagandavideos, die die Enthauptung vermeintlicher Gegner zeigen, manchmal auch deren Kreuzigung. Aus der Provinz Salaheddin verkündeten die selbst ernannten Gotteskrieger vor wenigen Tagen via Twitter, sie hätten 1.700 schiitische Soldaten hingerichtet.
Unter den mehrheitlich schiitischen Einwohnern von Bagdad verbreitet die näher rückende Miliz Angst und Schrecken. Die Hauptstadt ist ein religiöses Symbol für die Extremisten: Bagdad war auch die Hauptstadt des islamischen Kalifats während der Abbasiden-Zeit (750 bis 1258).
ISIL hat ihren Ursprung im Irak. Die Gruppe ging aus einer Jihadistentruppe hervor, die sich nach dem Einmarsch der US-Armee im Jahr 2003 gründete. Ihr Anführer Abu Bakr al-Baghdadi ist ein Phantom - es gibt kaum Fotos, aber dafür viele Namen. Die USA haben ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt.
Der Syrien-Krieg und der Machtkampf zwischen Sunniten und Schiiten im Irak machten aus der Miliz eine mächtige Terrororganisation. Charles Lister, Mitarbeiter am Brookings Doha Center in Katar, geht von 7.000 bis 8.000 Isis-Kämpfern im Irak und weiteren 5.000 in Syrien aus. Unter ihnen sind zahlreiche Ausländer aus Tschetschenien, Afghanistan oder auch Europa und den USA.
Von der syrischen Provinz Raqua (Rakka) aus kamen die ISIL-Kämpfer vor einigen Monaten ins westirakische Anbar. In der Stadt Falluja setzten sie sich im Jänner fest, eroberten Waffendepots der irakischen Armee und hielten Angriffen der Regierungstruppen stand. Einst von der Terrororganisation Al-Kaida inspiriert, hat sich ISIL inzwischen von dem Netzwerk abgewandt. In einer im April veröffentlichten Audio-Botschaft hieß es, die Al-Kaida-Führung unter Ayman al-Zawahiri habe sich von den Grundsätzen des „Heiligen Krieges“ entfernt.
Um strategisch wichtige Gebiete einzunehmen, bekämpft ISIL auch andere radikal-islamische Gruppen: Im Moment liefern sich die Jihadisten und die Al-Kaida-nahe Miliz Al-Nusra-Front in der syrischen Provinz Deir as-Saur blutige Kämpfe. Der Landstrich ist reich an Erdöl und liegt zwischen den ISIL-Hochburgen Raqua und Anbar.
Auf Hilfe von außen sind die Jihadisten nicht mehr angewiesen. Nach der Eroberung Mossuls erbeutete die Gruppe umgerechnet 318 Millionen Euro in der Zentralbank. Damit wäre sie die reichste Terrororganisation der Welt. Experten schätzen das Vermögen der Al-Kaida auf 50 bis 280 Millionen Euro. Auch schweres Kriegsgerät wie Panzer und Helikopter soll in ihrem Besitz sein. In Syrien finanzieren sich die Kämpfer bereits mit Schutzgeldern, die sie von den noch übrig gebliebenen Christen einfordern.
Die Terrorgruppe ist dort stark, wo die Bevölkerung gespalten und sunnitische Muslime in der Mehrheit sind. In Syrien wurde sie von der überwiegend sunnitischen Opposition gegen Präsident Bashar al-Assad - ein Alawit - zunächst als „Feind des Feindes“ im Land gutgeheißen. Im Irak sehen das viele Sunniten ähnlich - sie fühlen sich seit Jahren von der schiitisch dominierten Regierung in Bagdad diskriminiert. Deswegen fällt der Terrormiliz der Vormarsch leicht. Lokale Aufständische kämpfen an ihrer Seite.
Kurden sichern Grenzübergang
Während des seit Tagen andauernden gewaltsamen Konflikts im Norden des Irak haben kurdische Kräfte nach eigenen Angaben die Kontrolle über einen der beiden offiziellen Grenzübergänge zum benachbarten Syrien übernommen. Wie ein ranghoher Vertreter der kurdischen Sicherheitskräfte am Sonntag der Nachrichtenagentur AFP sagte, übernahmen sie die Kontrolle über die Grenzstation Rabia schon am Dienstag.
Der irakische Grenzschutz zog sich von dort zurück, erklärte der Vertreter. In der zurückliegenden Woche hatten Kämpfer der radikalislamischen Gruppierung Islamischer Staat im Irak und in der Levante (ISIL) zunächst die nordirakische Millionenstadt Mossul und dann die gesamte Provinz Ninive sowie weitere Städte und Regionen erobert. (APA/AFP)