10. Manifesta: Tabubrüche in Russland
St. Petersburg (APA) - Allen Boykottaufrufen zum Trotz geht die wandernde Kunstbiennale Manifesta auf die Zielgerade an ihrem nicht einfache...
St. Petersburg (APA) - Allen Boykottaufrufen zum Trotz geht die wandernde Kunstbiennale Manifesta auf die Zielgerade an ihrem nicht einfachen Ausstellungsort St. Petersburg. Zum ersten Mal gastiert das Großereignis für zeitgenössische Kunst in Russland - und zwar unter dem Dach der weltberühmten Eremitage. Arbeiten von mehr als 50 Künstlern sind vom 28. Juni bis 31. Oktober zu sehen.
Es ist die erste Manifesta in einer Ex-Sowjetrepublik. Der staatliche Kunsttempel als Gastgeber verspricht ungeachtet der vielen Tabus in Russland der modernen Kunst einen besonderen Schutz. Krieg und Sexualität, Geschichte und menschliche Beziehungen sind schließlich die Themen der 10. Manifesta. Klassiker wie Gerhard Richter, Joseph Beuys und Ilja Kabakow, oder aus Österreich Maria Lassnig und Otto Zitko sind vertreten. Selbst in die frühere Zarenmetropole gereist sind vor allem viele jüngere Künstler, um ihre Sicht auf die Welt einem Millionenpublikum vorzustellen.
„Brücken und kulturelle Verbindungen zu erhalten, ist heute sehr wichtig, besonders weil die Lage nicht gerade förderlich ist“, meint Eremitage-Chef Michail Piotrowski. Die Manifesta ist für das Staatsmuseum auch Teil seiner für Dezember geplanten 250-Jahr-Feier. Dass die Schau mit politischen und gesellschaftlichen Tabubrüchen überhaupt gezeigt wird - noch dazu im wichtigsten Kunstmuseum des Landes -, ist für russische Verhältnisse eine kleine Sensation.
Vor allem die russisch-orthodoxe Kirche, aber auch Ultranationalisten gelten als Störfaktoren für die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst in Russland. Das zeigten in der Vergangenheit international beachtete Prozesse und umstrittene Urteile gegen die Frauen-Punkband Pussy Riot oder den Kunstwissenschafter Andrej Jerofejew.
Piotrowski hat freilich nur einen Teil - den Matisse-Saal - im berühmten Winterpalast für die Schau geöffnet. Das Gros der Arbeiten ist im Gebäude des Generalstabs gegenüber dem Palast zu sehen, ein sanierter Teil der Eremitage mit großen lichtdurchfluteten Hallen. Dort haben gigantische Installationen von Bruce Nauman, Kabakow und anderen Künstlern Platz. Auch die berühmten Werke von Henri Matisse sind hierher umgezogen, weil der nach ihm benannte Saal im Palastgebäude für eine brisante Aktion gebraucht wird.
Im Matisse-Saal will die südafrikanische Künstlerin Marlene Dumas gemalte Porträts von berühmten Homosexuellen zeigen, darunter Peter Tschaikowski und Oscar Wilde. Die Aktion ist heikel, weil die als schwulen- und lesbenfeindlich kritisierte Politik Russlands in dieser Millionenstadt ihren Anfang genommen hat. Ein Gesetz gegen „Homo-Propaganda“ verbietet es, in Gegenwart von Minderjährigen positiv über Homosexualität zu sprechen, während Mordaufrufe von ultranationalistischen Künstlern etwa ohne Folgen bleiben.
Dass die Schau insgesamt ein Balanceakt wird, wissen auch die Organisatoren. Arbeiten des deutschen Fotografen Wolfgang Tillmans und des 2013 gestorbenen russischen Travestie-Künstlers Wladislaw Mamyschew-Monroe sind zu sehen. Es gehe hier aber „nicht um schwul oder nicht schwul“, sagt Chefkurator Kasper König, sondern um die Würde des Menschen.
„Die Eremitage verteidigt das Territorium der Kunst“, betont König. Wichtig sei vor allem, sich gegen die Schere im Kopf zu wehren, keine Selbstzensur zuzulassen, betont er in einem Interview mit der dpa. Aufgeben wäre ein „Zeichen der Resignation“. König zeigt gleichwohl Verständnis für die Künstler, die eine Teilnahme aus politischen Gründen abgesagt haben.
Anders als ein Boykott könne die Manifesta Diskussionen in Gang bringen. Der ukrainische Fotograf Boris Michailow zeigt vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts seinen Blick auf die proeuropäischen Proteste auf dem Maidan in Kiew. Gegner der Schau in St. Petersburg hatten davor gewarnt, dass ihre Kollegen mit ihrer Teilnahme die umstrittene russische Politik legitimieren würden.
Der niederländische Künstler Erik van Lieshout greift auch den Tod des russischen Oppositionellen Alexander Dolmatow in Asylhaft 2013 in Rotterdam auf. Nach der Einverleibung der zur Ukraine gehörenden Halbinsel Krim durch Russland sei er aus Verärgerung beinahe aus St. Petersburg abgereist, sagt der Niederländer. „Ich bin geblieben, weil ich sonst viele russische Freunde vor den Kopf gestoßen hätte, die mit der Politik auch nicht einverstanden sind - und trotzdem versuchen, etwas anders zu machen“, sagt der 46-Jährige der dpa.
(S E R V I C E - http://manifesta.org)