Spur zu Auftraggebern von Christen-Morden in Türkei droht zu erkalten
Istanbul (APA) - In der Türkei sind am Dienstag vier weitere Angeklagte der Christen-Morde im ostanatolischen Malatya aus der Haft entlassen...
Istanbul (APA) - In der Türkei sind am Dienstag vier weitere Angeklagte der Christen-Morde im ostanatolischen Malatya aus der Haft entlassen worden. Darunter finden sich drei Armeeangehörige. Die fünf Hauptverdächtigen sind im Folge einer Justizreform bereits seit März auf freiem Fuß. Die Spur zu den Auftraggebern verläuft sich zunehmend, die Morde drohen nie aufgeklärt zu werden.
Die jüngste Abschaffung der Sondergerichte und die Herabsetzung der Untersuchungshaft von zehn auf fünf Jahre hat eine Lawine an Entlassungen in den politischen Schauprozessen der jüngeren türkischen Vergangenheit ausgelöst. Die Reform, die von der politischen Opposition als „Putsch gegen die Justiz“ bezeichnet wurde, spülte auch Mörder, Mafiabosse sowie zahlreiche Armeeangehörige aus der Haft.
Die umstrittene Justizreform Ende Februar, nur zwei Monate nach Auffliegen des Korruptionsskandals der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) hat ihre Freilassung ermöglicht. Als Auslöser für die Gesetzesänderungen gilt der versuchte Kahlschlag der AKP zur Ausmerzung des Netzwerkes des islamischen Predigers Fethullah Gülen, das den Justiz- und Polizeiapparat unterwandert haben soll.
Aufgrund gefälschter Beweise müssen zudem die Putschisten-Prozesse Ergenekon und Balyoz neu aufgerollt werden. Über 230 Angeklagte wurden vergangene Woche freigelassen, 25 erhielten gestern Freisprüche. Die verurteilten Verschwörer, darunter hochrangige Militärs, die den Sturz der Regierung Erdogan geplant haben sollen, fühlen sich bestätigt. Sie fordern, dass die Verantwortlichen für die politischen Verfahren zur Rechenschaft gezogen werden.
Im Kielwasser der neuen Entwicklungen ist auch Bewegung im Prozess um drei ermordete christliche Missionare im Jahr 2007 entstanden: Am Dienstag hat das zuständige Gericht in Malatya bei seiner mittlerweile 94. Gerichtsanhörung vier weitere Verdächtige in dem spektakulären Mordprozess mit der Auflage, das Land nicht zu verlassen, aus dem Gefängnis entlassen.
Mindestens drei von ihnen sind Armeeangehörige, berichten türkische Medien. Bei der Verhandlung war auch die Frau des ermordeten deutschen Theologen, Susanne Geske im Gerichtssaal. Sie lebt mit ihren drei Kindern immer noch in Malatya. Am 8. März waren bereits die fünf Hauptangeklagten nach rund sieben Jahren Untersuchungshaft, ausgestattet mit elektronischen Fußfesseln, auf freien Fuß gesetzt worden.
Den fünf Hauptverdächtigen, die dem ultranationalen Lager der „Grauen Wölfe“ zugerechnet werden, wird vorgeworfen, am 18. April 2007 einen deutschen Missionar und zwei zum Christentum konvertierte Türken im christlichen Verlagshaus Zirve in Malatya überfallen, brutal gefoltert und die Kehlen durchgeschnitten zu haben. Zu diesem Zeitpunkt waren die Angeklagten zwischen 19 und 20 Jahre alt. Nur wenige Augenblicke nach dem Mord wurden die jungen Männer, mit Messern bewaffnet und blutüberströmt, am Tatort ertappt.
Die Staatsanwaltschaft forderte für jeden der fünf Hauptangeklagten dreimal lebenslänglich in Einzelhaft ohne Aussicht auf Bewährung. Ihnen wird die Bildung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie Mord vorgeworfen. Ihr Motiv war laut Anklage, dass die drei Opfer in „missionarische Aktivitäten“ verwickelt gewesen seien.
Im Zuge des Prozesses verstrickten sich die mutmaßlichen Täter immer wieder in widersprüchliche Aussagen über den Tathergang. Als Rädelsführer gilt Emre Günaydin, dem enge Kontakte zu den Polizeibehörden in Malatya nachgesagt wurden. Als Auftraggeber für die Christenmorde werden Mitglieder des türkischen Sicherheitsapparates vermutet. Ebenso wurden Verbindungen zur rechtsgerichteten Putschistentruppe Ergenekon gezogen.
Im Frühjahr 2011, vier Jahre nach der Ermordung der drei protestantischen Missionare gliederte Staatsanwalt Zekarya Öz den Überfall auf den Bibelverlag Zirve aufgrund der Beweislage in den Ergenekon-Prozess ein. Dieser beginnt jetzt zu erodieren und mit ihm das Verdächtigenumfeld im Christen-Mord.
Der hauptbeschuldigte Drahtzieher, der pensionierte General Hursit Tolon, gehörte in seiner Dienstzeit zu den einflussreichsten Militärs in der Türkei. Er wurde am 10. Juni entlassen. Damit sind nur noch vier der insgesamt 19 Verdächtigen weiter in Haft. Das Gericht hat weitere Nachforschungen angeordnet, die nächste Anhörung und damit die Entscheidung über eine mögliche Freilassung aller Beteiligten wurde auf den 18. August - rund eine Woche nach den anberaumten Präsidentenwahlen in der Türkei - vertagt.
Die Karriere von Staatsanwalt Öz, der „Held“ der Ergenekon-Ermittlungen, fand schon vorher ihr Ende. Öz hatte die Korruptionsuntersuchungen gegen die regierende AKP am 17. Dezember 2013 eingeleitet und wurde von seinem Posten abgezogen und als Anhänger der Gülen-Bewegung diskreditiert.
Zwei der noch in Haft sitzenden Verdächtigen im Zirve-Mordfall nutzen den politischen Wetterumschwung und deklarieren sich zu Opfern einer Verschwörung durch „Parallelstrukturen im Staat“.
Rückenwind erhielten sie gestern von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan. Bei einer Sitzung der AKP-Parlamentsfraktion schob er die Verantwortung für die politischen Schauprozesse seinem ehemaligen Bundesgenossen und jetzigen Erzfeind Fethullah Gülen in die Schuhe.
Dieser habe „im Kampf gegen das Militär für die Verurteilung hunderter unschuldiger Armeeangehöriger als Putschisten“ eingefädelt. Die Verfassungsänderung von 2010 und die Justizreform der AKP im Februar habe dafür gesorgt, dass diese wieder in Freiheit seien, zitiert die Zeitung „Hürriyet“ den Premier.