„Pillen sind keine Lösung“
Psychopharmaka wie Ritalin und Antidepressiva erzeugen nur funktionierende Sklaven der Leistungsgesellschaft, sie lösen aber keine Probleme: Das prangert Psychologin Lena Kornyeyeva an.
Bad Kissingen –Kinder bekommen pharmazeutische Dämpfer, Studenten schlucken leistungssteigernde Mittel, wer im Job überfordert ist, nimmt Antidepressiva – und wer von der Norm abweicht, wird pathologisiert: Dieses düstere Bild zeichnet die ukrainisch-stämmige Psychologin Lena Kornyeyeva im Buch „Die sedierte Gesellschaft“.
Sie arbeiten in einer Klinik in Bad Kissingen und in der freien Praxis. Sie berichten von Scharen allgemeiner Klinikpatienten auf Psycho-Pillen und Amokläufen unter Medikamenteneinfluss. Stecken Frust oder Erschrecken hinter diesem Buch?
Lena Kornyeyeva: Es ist meine traurige Erfahrung: Fast täglich sind bei mir Menschen, die keine psychotischen Episoden oder psychiatrischen Diagnosen haben, aber statt einer Gesprächstherapie Tabletten bekommen. Die können aber die Probleme nicht lösen und die Ursachen nicht beseitigen, sondern nur die Stimmung aufhellen. Manche erzählen: Sie wollten das gar nicht, haben aber nichts anderes bekommen. Betroffen sind eher einfache, nicht so gut ausgebildete Patienten.
Die Pharmaindustrie verdient damit Milliarden und die Gesellschaft will kritiklos funktionierende Menschen. Sie prangern besonders die Gabe von Ritalin an Kinder an.
Kornyeyeva: Man stellt eine ganze junge Generation mit Ritalin ruhig. Das ist eine kokainähnliche Droge und keine Therapie! Junge Menschen und Erwachsene berichten mir über den Wunsch, dass sie davon loskommen wollen. Viele beklagen, dass ihnen die Eltern das angetan haben. Natürlich wollen Eltern mit den besten Absichten, dass ihr Kind angepasst ist – aber so geht die Individualität verloren. Schade ist auch, dass es als pathologisch gesehen wird, wenn ein Kind lebhaft ist oder anders als andere. Wenn ein Kind nicht so lenkbar ist oder in der Schule randaliert, ist das nicht ein medizinisches Problem, sondern ein Symptom für eine Krise, eine innere Frustration oder Konfrontation.
Sie berichten auch von Studenten auf Hirndoping und wissenschaftlichen Arbeiten, die unter Psychopharmaka-Einfluss geschrieben werden. Ein Problem der Bildungselite?
Kornyeyeva: Mehr als die Hälfte meiner Bekannten auf Unis nimmt Tabletten, um Prüfungen zu bestehen und Arbeiten abzuliefern. Professoren, die ihren Lehrstuhl behalten wollen, müssen so viele Projekte schaffen, dass das nicht ohne Tabletten geht.
Kriegt denn wirklich jeder Patient mit psychischen Auffälligkeiten gleich Pillen?
Kornyeyeva: Es gibt natürlich auch einfühlsame Ärzte, die eine Psychotherapie anbieten. Aber die Ärzte stehen auch unter enormem Druck: Sie wissen, dass die Wartezeit auf einen Termin beim Psychologen oft acht, neun Monate dauert. Der Patient kann aber jetzt nicht schlafen, ist überfordert und braucht Hilfe. Die Menschen nehmen diese Pillen auch in Kauf, weil sie nachts schlafen müssen. Das Problem: Solche Mittel machen abhängig und sie machen die eigene Fähigkeit einzuschlafen kaputt. Sie lösen oft dieselben Nebenwirkungen aus, die sie bekämpfen sollen, und niemand kann das vorkalkulieren. Auch der Entzug ist eine Qual. Aufgabe unseres Berufes ist es, mit dem Patienten Möglichkeiten zu suchen, wie er mit der belastenden Situation besser umgehen kann.
Gibt es aber nicht auch viele verhinderte Selbstmorde durch Antidepressiva?
Kornyeyeva: Das können wir nur spekulieren. Ich bin auch nicht generell gegen Tabletten. Natürlich kann man auf ein Antidepressivum zurückgreifen, wenn man zum Beispiel in einer schwierigen Situation ist und niemandem vertraut. Aber nicht richtig wäre, das als Lösung Nummer 1 zu sehen. Und bei Kindern ist das Problem, dass die gar nicht für sich selbst entscheiden können. Wenn sich jemand so alleingelassen und unverstanden fühlt, was bei Jugendlichen oft der Fall ist, soll man erst einmal die Ursachen beseitigen!
Es heißt, manche wollen lieber einfache Lösungen – und es gebe keine Heilung ohne Anstrengung.
Kornyeyeva: Nicht unbedingt. Wenn man zu einem guten Psychologen geht, hat man auch Spaß daran, zu sich selbst zurückzufinden, seine Bedürfnisse und Kommunikationsfähigkeit wieder zurückzugewinnen. Es muss aber der Psychologe menschlich passen, dann wird es eine gute Erfahrung sein. Das merkt man bereits in der ersten Stunde!
Sie sagen also, lieber drei Psychologen probieren als Tabletten? Das muss man sich aber leisten können!
Kornyeyeva: Ja, wir brauchen da viel mehr Unterstützung von den Krankenkassen.
Haben Sie denn noch Hoffnung für die Gesellschaft?
Kornyeyeva: Ja, ich bin eine Optimistin! Auf das Buch haben mich vor allem meine Patienten gebracht, die zufrieden waren und mit denen eine gute Arbeit gelungen ist.
Das Gespräch führte Elke Ruß