Briten völlig isoliert: EU-Gipfel will Juncker nominieren
Erst gedenken die Staats- und Regierungschefs heute im flämischen Ypern der Toten des Ersten Weltkrieges. Dann geht es um europäische Topposten. Nur noch zwei Regierungschefs stellen sich bei Juncker quer.
Brüssel- Nach wochenlangem Streit wollen Europas Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel den künftigen Präsidenten der EU-Kommission nominieren. Trotz Widerstands aus Großbritannien dürfte der frühere luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker (59) das Amt erhalten. Der britische Premier David Cameron hat signalisiert, eine formelle Abstimmung beim Gipfel zu beantragen. Solch eine Kampfabstimmung ist einmalig, bislang wurden Kommissionschefs einvernehmlich nominiert. Die Staatenlenker wollen die Personalie am Freitag in Brüssel abschließen.
Der konservative Juncker war bei den Europawahlen Ende Mai als stärkster Bewerber für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten hervorgegangen. Seine Partei EVP wurde die stärkste politische Kraft. Das zweitägige EU-Gipfeltreffen beginnt am Donnerstag (17.30 Uhr) im flämischen Ypern mit einer Gedenkfeier an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Dort starben während des Ersten Weltkriegs von 1914 bis 1918 etwa eine halbe Million Soldaten.
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Bei einem Abendessen wollen die Staats- und Regierungschefs über die strategische Ausrichtung der Union bis 2019 beraten. Dies bildet das Arbeitsprogramm für den neuen EU-Kommissionspräsidenten. Über weitere EU-Spitzenpersonalien soll voraussichtlich ein Sondergipfel Mitte Juli entscheiden. Dabei geht es um die Nachfolge der Außenbeauftragten Catherine Ashton und des EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy.
Große Mehrheit für Juncker erwartet
Juncker wird nach Einschätzung von Diplomaten eine große Mehrheit im Kreis der Staats- und Regierungschefs finden, allerdings darf er nicht auf ein einstimmiges Votum hoffen. Der britische Premier David Cameron hatte sich öffentlich gegen Juncker gestellt, weil er dessen Eignung bezweifelt. Bei einem Votum würde seine Niederlage manifest, was dem britischen Premier aus innenpolitischen Gründen zupass kommen dürfte, um die Europa-Skeptiker im eigenen Land zu besänftigen.
An der Seite von Cameron dürfte auch Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban gegen Juncker stimmen. Orban bekräftigte seine ablehnende Haltung am Dienstag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso in Budapest.
Unterstützung bekommt Juncker inzwischen auch vom schwedischen Ministerpräsidenten Fredrik Reinfeldt. Nach einem Bericht der Tageszeitung „Dagens Nyheter“ sagte Reinfeldt am Mittwoch, Schweden werde nicht gegen Juncker als EU-Kommissionspräsident stimmen: „Ich denke, Juncker hat die notwendige Unterstützung, die man für solch einen Auftrag braucht.“
Spindelegger kritisiert Cameron
Österreichs Vizekanzler Michael Spindelegger (ÖVP) hat den britischen Premier David Cameron wegen seiner Haltung scharf kritisiert. „Man kann nicht sehenden Auges in eine solche Situation hineinschlittern, ohne zu wissen, wie man selber wieder herauskommt“, sagte der ÖVP-Chef am Donnerstag beim Treffen der EVP in Kortrijk.
Es wäre „keine Alternative“, den Großteil der Mitgliedsländer zu verärgern, indem Jean-Claude Juncker nicht als EU-Kommissionschef designiert würde. Es sei wichtig, jetzt eine Entscheidung zu treffen. „Aus meiner Sicht kann es nicht sein, wenn man vor der Wahl ein System vereinbart, das muss man nach der Wahl natürlich auch einhalten. Und da kann man sich nicht nachher darauf ausreden, dass man eigentlich etwas anderes hätte machen sollen“, sagte Spindelegger.
Merkel rechnet mit Cameron-Nein
Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel sieht in einer sich abzeichnenden Abstimmung für Jean-Claude Juncker zum neuen Kommissionspräsidenten und einer Mehrheitsentscheidung „kein Drama“. Vor Beginn des EVP-Treffens im Vorfeld des EU-Gipfels sagte Merkel, sie rechen mit einer Ablehnung durch den britischen Premier David Cameron.
Wie wird der EU-Kommissionspräsident gewählt?
Der Präsident der EU-Kommission wird erstmals nach den Vorschriften des Ende 2009 in Kraft getretenen EU-Vertrags von Lissabon gewählt. Bis zum Inkrafttreten des Reformvertrags galt: Die Staats- und Regierungschefs beschließen mit qualifizierter Mehrheit, wen sie an die Spitze der Kommission stellen wollen. Anschließend entscheidet das Europaparlament über diesen Vorschlag.
Nunmehr gilt Artikel 17 des Lissabon-Vertrags: Demnach schlagen die Staats- und Regierungschefs „nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor“. Weiter heißt es: „Dabei berücksichtigt er (der Europäische Rat) das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.“ In der Volksvertretung sind also mindestens 376 der insgesamt 751 Stimmen nötig. Die Abstimmung ist für Mitte Juli geplant.
Im Kreis der 28 Staatenlenker ist für den Kandidatenvorschlag eine Mehrheit von mindestens 260 der insgesamt 352 Stimmen nötig, die im Rat (gewichtet nach Bevölkerungszahlen) vertreten sind. Mehr als 93 Stimmen können einen Beschluss des Rates über einen Vorschlag verhindern. Im Rat reichen die Stimmen von jeweils 29 (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien) bis hin zu 3 (Malta). Der britische Premier David Cameron, der Juncker ablehnen will, hat laut Diplomaten nicht genügend Verbündete, um eine Sperrminorität zusammenzubekommen.
Auf die Frage, wie sie Cameron einbinden wolle, der angekündigt habe, gegen Juncker zu votieren, sagte Merkel: „Wir rechnen damit. Und Cameron hat das immer wieder gesagt. Die Verträge sagen, wir müssen mit qualifizierter Mehrheit abstimmen. Ich halte das deshalb auch für kein Drama, wenn eben eine Abstimmung in dem Fall nicht einstimmig ist“. (dpa, TT.com)