Blick von Außen

Ein Studiumerl und Diplomerl

Der Germanist und Karl-Kraus-Experte Univ.-Prof. Sigurd Paul Scheichl verabschiedete sich am 17. Juni mit einer kritischen Abschiedsvorlesung von der Universität Innsbruck. Ein Auszug aus seiner Vorlesung.

Von Sigurd Paul Scheichl

Heute verabschiede ich mich offiziell von Ihnen, von Kolleginnen, Kollegen, ehemaligen und jetzigen Studentinnen und Studenten – und von der Universität Innsbruck. Nicht von der Universität Innsbruck, an der ich mich im Oktober 1959 immatrikuliert und an der ich viel gelernt habe, nicht von der, an der ich 1971 Assistent geworden bin, nicht von der, die mich 1992 zum Professor berufen hat. Ich verabschiede mich von einer Institution, der ich viel zu danken habe. Verabschiede ich mich aber noch von einer ‚Universität‘?

Verlorene Neugier

Neben dem mitbestimmungsfeindlichen Universitätsgesetz 2002 schmerzen besonders zwei Einschnitte. Der eine ist der Bologna-Prozess, der, in Anlehnung an Nestroy gesagt, ein Studiumerl mit Curriculumerl und Diplomerl vorschreibt und wenig Raum für akademische Freiheit lässt, was, wie ich fürchte, noch nicht allen Studierenden und Lehrenden bewusst ist. Leider betreten auch die Studierenden nicht mit Neugier, sondern mit Berufsplänen die Universität – die sollte freilich die Kraft haben, diese Haltung zu verändern.

Noch schlimmer ist der Wissenschaftsbetrieb, der immer mehr zum Betrieb wird. Er zwingt jede Dissertantin und jeden Dissertanten möglichst oft auf Tagungen zu sprechen und selbst Tagungen zu organisieren. Diese, mit 15 Minuten plus fünf Minuten Diskussionszeit pro Thema, sind in den Geisteswissenschaften sinnlos; von den Folgen für die Rhetorik – wer sollte die pflegen, wenn wir Literaturwissenschaftler es nicht mehr tun! – ganz abgesehen. Die dann in unüberblickbarer Zahl erscheinenden unlektorierten Tagungsbände mästen nur dubiose ‚Wissenschaftsverlage‘ mit öffentlichem Geld.

Ich brauchte in der Zeit des Dissertierens nichts anderes als die Doktorarbeit schreiben – heute würde ein Doktoratsstudium an einer solchen Haltung scheitern, Konzentration ist nicht mehr gefragt.

Mit dem Stichwort ‚Dissertation‘ kann ich trotzdem die Rolle des Lobredners alter Zeiten verlassen: Die Entwicklung seit den 70er-Jahren hat mit der Dissertationskultur des ’survival of the fittest’ aufgeräumt. Betreuung und Beratung, ein weniger professoraler Unterrichtsstil – bei mir persönlich sehr vom Fulbright-Jahr in den USA beeinflusst – und veränderte Studienordnungen haben dazu beigetragen; noch mehr ein Bewusstseinswandel, der Dissertationen als Forschungs- und nicht mehr als bloße Prüfungsarbeiten versteht.

Der Qualitätssprung zeigt sich nicht nur in den Arbeiten der Studierenden. Man brauchte sich dessen, was man hier gelernt hat, auch vor 50 Jahren nicht schämen; aber durch die Modernisierung der internationalen und der österreichischen Hochschulen hat sich auch die Universität Innsbruck radikal verändert, ist in der Forschung gewiss viel mehr Universität als vor 50 Jahren.

Lange bin ich auf die Öffnung zur Gegenwartsliteratur als eine besondere Errungenschaft meiner Generation stolz gewesen. Allmählich werden aber vor 40 Jahren nicht geahnte Schattenseiten dieses ‚Fortschritts‘ erkennbar. Denn die aktuelle Literatur – eher Kehlmann und Martin Suter als Enzensberger, Pastior und Gstrein – verdrängt in Verbindung mit anderen Phänomenen mehr und mehr den Kanon und damit die Literaturgeschichte. Literaturwissenschaft wird Literaturkritik.

Zuerst ein sprachliches Indiz zu den anderen Phänomenen: Studenten schreiben ‚Hauptdarsteller‘ statt ‚Hauptfigur‘, nehmen den Text also nicht mehr als Buch, sondern wie einen Film wahr. Wer so wahrnimmt, muss Schwierigkeiten mit Werken haben, deren Verfasser an ein solches Wahrnehmen gar nicht denken konnten.

Mich treibt – selbstkritisch – die Sorge um, der Zeitpunkt meines Abschieds von der Universität könnte mit dem des Abschieds der Germanistik von der Literatur zusammenfallen – was mit diesem zunehmend ausschließlichen Interesse nicht nur der Studierenden an aktuellen Werken zu tun hat.

Wir haben zu lange ’business as usual’ betrieben und vieles übersehen. Literaturwissenschaft ist eine bildungsbürgerliche ‚Milieuwissenschaft‘ gewesen. Ihr Milieu gibt es kaum noch; für digital geprägte Studierende sind Bücher nicht mehr selbstverständlich. Auch Literaturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen führen einen bücherlosen Haushalt, ohne Staubfänger. Bewusstes Plädieren für das Medium Buch – für das die Literatur bis gestern geschrieben worden ist – tut not; das habe ich zu spät begriffen.

Abschied von der Literatur

Voraussetzung eines philologischen Studiums ist die Fähigkeit, genau zu lesen. Lange habe ich mich darauf verlassen, dass man es in der Schule gelernt hat, vor allem im Lateinunterricht. Aber warum sollte man in dem noch Ciceronianische Perioden analysieren, bis man sie versteht – wenn es die Übersetzungen im Netz gibt? Wir haben zu lange über das veränderte Gymnasium gejammert, statt uns auf seine veränderten Absolventen und Absolventinnen einzustellen.

Komplexe Texte lesen lernt man also nicht mehr am Lateinischen; wir müssen es unseren Studenten – nein, Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen es Ihren Studenten – selbst beibringen; lernen müssen sie es, denn ohne Sinn für Komplexität kann man mit Literatur nichts anfangen.

Auch andere Bildungsvoraussetzungen haben sich geändert. Ein Beispiel: Der Wortschatz wird kleiner. Schon vor zehn Jahren haben viele Teilnehmer und Teilnehmerinnen eines Proseminars das Verb ‚stunden‘ im Titel Die gestundete Zeit (Ingeborg Bachmann) nicht verstanden – es ist ihnen auch nicht eingefallen, im Wörterbuch nachzuschauen. Die Lehrenden werden beim Heranführen der Studierenden an literarische Texte sehr viel bewusster und sehr viel mehr erklären müssen, nicht nur sprachlich.

Die Fixierung auf die Gegenwart entspricht einem allgemeinen Traditionsverlust; manches daran ist unabänderlich, aber die ästhetischen Werte der deutschen Literatur vom 16., eigentlich vom 13. bis zum 19. und frühen 20. Jahrhundert dürfen wir nicht einfach preisgeben. Innerhalb von vielleicht nur zwei Jahrzehnten ist die neuere deutsche Literaturwissenschaft in die Lage gekommen, in der sich die Mediävistik schon länger befindet: Sie muss das Behandeln ihrer Gegenstände rechtfertigen. Wir haben es nur noch nicht gemerkt.

Sind wir bei der Vermittlung des Kanons auf so verlorenem Posten wie die Lateinlehrer an höheren Schulen? Wie diese wollen wir etwas Schönes weitergeben – aber niemand geht hin. Die Bücher untersuchende Literaturwissenschaft kann schnell zum Orchideenfach werden; oder ist sie es schon? Der Reclam-Verlag reagiert schneller als wir auf diese Bildungsbrüche: Die Ausgaben von Literatur werden weniger, statt dessen gibt es – Goethe zum Vergnügen. Zeichen an der Wand.

Fehlender Spaß

Zuletzt: Ich fürchte, dass viele Kolleginnen und Kollegen selbst keinen Spaß mehr an der Literatur haben; mit ihrer hochabstrakten Sprache können sie jedenfalls keine Leserinnen und Leser für sie gewinnen. Ich schließe mit einer Anekdote: Bei meiner letzten Begegnung mit Harro Heinz Kühnelt, meinem anglistischen Lehrer, habe ich ihm gebeichtet, dass ich in den vergangenen zwölf Monaten nicht dazu gekommen bin, einen der viktorianischen Romane zu lesen, die zu meinem jährlichen Leseprogramm gehören. Seine Antwort: „Schäm dich!“ Er hatte Recht, es wird nicht mehr vorkommen. Auch der Literaturwissenschaftler soll zum Vergnügen lesen, gerade was er nicht braucht.

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