Bühne

Freiheitskampf im Röhrenwald

Ein Comeback mit Verve und Wucht: Michael Volle (Mitte) kehrt als „Tell“ an die Bayerische Staatsoper zurück.
© Wilfried Hösl

Die Ouvertüre kommt später: Antú Romero Nunes’ Inszenierung von Rossinis „Guillaume Tell“ eröffnet die Münchner Opernfestspiele.

Von Jörn Florian Fuchs

München –Huch, wo ist denn die Ouvertüre geblieben? Der Vorhang im Nationaltheater hebt sich, ein Mann wird von einem anderen niedergeschlagen, dann sind wir plötzlich mitten im (musikalischen) Geschehen.

Der beliebte Wunschkonzert-Ohrwurm jedoch fehlt! Nichtsdestotrotz bringt Dan Ettinger mit dem Bayerischen Staatsorchester Gioachino Rossinis ebenso turbulente wie fein pointierte Partitur zum Klingen – der „Tell“ ist ja Rossinis letzte Oper und hat fast nichts mehr Obergäriges wie seine frühen und mittleren Werke. Manches würde man an diesem Abend freilich gern noch etwas differenzierter, weniger grobmotorisch hören. Sängerisch ist die Sache eine komplett sichere Bank, endlich kehrt Michael Volle ans Nationaltheater zurück und singt die Titelpartie mit Verve und Wucht. Evgeniya Sotnikova gibt Tells Sohn Jemmy, eine Hosenrolle. Sotnikova gelingen berückend die zartesten Linien, sie beherrscht jedoch auch selbstbewusstes vokales Auftreten.

Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung von Antú Romero Nunes ist ebenjene Sohn-Vater-Beziehung sowie die Zwiespältigkeit des Freiheitskämpfers. In einem von Gesler (Günther Groissböck glänzt vokal und agiert herrlich verschlagen) angeführten Polizeistaat der Gegenwart läuft das Geschehen ab, Nunes schafft immer wieder großflächige, großartige Massenszenen auf einer nur von zwei Elementen bestimmten Bühne (Florian Lösche): Es gibt aggressive Lichtstimmungen und ein Ungetüm aus leichten, wandelbaren Röhren. Mal fügen sie sich zu einem Wald, dann sind sie bedrohliche Waffen, mal Versteck, mal Begrenzung einer Art Arena. Unter die Haut geht die Liebesgeschichte des jungen Arnold Melcthal, der sich in Mathilde verliebt hat – in der Vorlage ist sie eine Habsburgerprinzessin, was man aber nicht wissen muss, weil die Regie sämtliche historischen Bezüge kappt. Rossini und seine Librettisten hatten ja bereits Schillers Schauspiel stark gekürzt und auf Schlüsselstellen fokussiert, Nunes geht noch einen Schritt weiter und arbeitet vor allem zwei Dinge heraus. Entgegen der Vorlage tötet Tell heimlich, gemeinsam mit einem Kumpanen, den alten Melcthal, was (endgültig) zum Aufstand der Schweizer gegen die habsburgischen Machthaber führt. Dadurch wird er zur moralisch zerrissenen Figur. Vor dem berühmten Apfelschuss versucht Jemmy sich mit einer Pistole zu töten, was verhindert wird. Dann ergreift Tell eine riesige Armbrust und legt an. Darauf folgt die Pause und danach ist alles anders. Jemmy träumt, offenkundig leicht verletzt, von wilden Tieren und allerlei Spukgestalten, die als Ballett die Szenerie bevölkern. Dass der eigene Vater tatsächlich auf ihn geschossen hat, scheint den Sohn arg zu belasten. An dieser Stelle hört man nun die Ouvertüre, was absolut Sinn macht. Ruhige Hirtenmelodien und heftiges Galopp als Kopfgeburt eines traumatisierten Kindes.

Dass Antú Romero Nunes eigentlich Schauspielregisseur ist, kommt seinem Operndebüt zugute, der „Tell“ tendiert über weite Strecken wegen der vielen Massenszenen fast notgedrungen zum Rampentheater. Nunes gelingt es überwiegend, die Rampe – wo angemessen – durch beherzte Personenführung zu beleben, dadurch langweilt der Abend wirklich keine Minute.