Sykes-Picot-Plan - Hundert Jahre alte Linien im arabischen Sand

Damaskus/Bagdad (APA/AFP) - Seit die ISIS-Jihadisten Anfang Juni ihre Eroberungen im Irak starteten, ist von einer Blitzoffensive die Rede -...

Damaskus/Bagdad (APA/AFP) - Seit die ISIS-Jihadisten Anfang Juni ihre Eroberungen im Irak starteten, ist von einer Blitzoffensive die Rede - ein „Blitz“ mit hundert Jahren Anlauf. 1916 schlossen London und Paris einen Geheimpakt zur Aufteilung der Region vom Mittelmeer bis zum Golf. Die Diplomaten Sir Mark Sykes und Francois Georges-Picot zogen in ihren Büros Linien im Sand für die Zeit nach dem Ende des Osmanischen Reichs.

In dem Gebiet will ISIS nun ein Kalifat errichten, einen „Islamischen Staat im Irak und in Großsyrien“. Als die sunnitischen Extremisten zum Angriff bliesen, da veröffentlichten sie im Internet eine Fotoserie. Zu sehen ist, wie eine Planierraupe eine Aufschüttung durchbricht, welche die Grenze zwischen Syrien und dem Irak zeigen soll. Der Kampftitel zur Fotoserie: „Die Zerstörung von Sykes-Picot.“

Durch den Bezug auf das Geheimabkommen deutet Isis den Aufstand als späte Rache an der Arroganz der einstigen Kolonialherren. Tatsächlich sei das Abkommen noch heute „relevant für das Gefühl vieler Araber, vom Westen verraten worden zu sein“, sagt der Nahost-Analyst Kristian Brakel von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Es sei „die Wurzel für viele Konflikte in der Region, gerade unter Gruppen wie Palästinensern und Kurden, denen damals eigene Staaten verweigert wurden“.

Sykes und Georges-Picot handelten ihr folgenschweres Abkommen im November 1915 aus. Im März 1916 wurde es formell unterzeichnet. Es sieht die Aufteilung in drei Zonen vor, in denen sich beide Länder das Recht zu „direkter oder indirekter Verwaltung oder Kontrolle nach ihren Wünschen“ einräumen. Die Briten schlugen sich auf dem Papier das Territorium des heutigen Jordanien, Palästina sowie den Westen und einen breiten Streifen des mittleren Iraks zu. Der Nord- und Südirak, die Westküste des Persischen Golfs und der Großteil des heutigen Syrien gingen an Paris. Dabei hätten die Ententemächte eine vorherrschende Nord-Süd-Achse in eine englisch-französische Ost-West-Achse „umgedreht“, sagt Brakel.

Das Geheimabkommen floss - mit einigen Änderungen - in die Neuordnung der Region nach dem Ende des Osmanenreiches ein. 1920 beschlossen die alliierten Mächte im italienischen San Remo Gebietsmandate für Syrien, den Libanon, Palästina und Mesopotamien, aus denen mit Ausnahme Palästinas dann vor und nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängige Staaten wurden.

Ungeachtet des Abkommens mit den Franzosen hatte London den Arabern einen unabhängigen Staat versprochen, sollten sie sich am Kampf gegen die Türken beteiligen. Statt dessen seien „Vasallenregime“ mit kaum lokaler Legitimation entstanden, sagt Brakel. Er spricht vom „Grundstein“ für eine Herrschaftsform, die sich oft mehr durch externe Unterstützung als durch die Akzeptanz der Bevölkerung an der Macht halten kann.

Zur Ironie von Sykes-Picot gehört aus Sicht von Reva Bhalla vom US-Institut Stratfor, dass die erbittertsten Verteidiger der „Linien im Sand“ heute in Bagdad, Damaskus, Ankara, Teheran und Riad sitzen. Die Europäer als Väter und „die USA als Erben der Sykes-Picot-Landkarte“ würden den Regionalmächten die Arbeit und das Risiko überlassen, ein Jihadisten-Kalifat zu verhindern, schreibt sie in einer Stratfor-Analyse.

Die Kampfansage der ISIS-Extremisten an das hundert Jahre alte Geheimabkommen mag nicht ganz unberechtigt erscheinen. Doch ihrem Versuch, einen sunnitischen Gottesstaat auf Gebieten des Iraks und Syriens zu errichten, liegt kaum das Ziel zugrunde, den verschiedenen Konfessionen und ethnischen Gruppen der Region endlich zu Selbstbestimmung zu verhelfen. Das Gebiet habe auch im Osmanischen Reich nie zusammengehört, sagt Brakel. „Der Irak und Syrien waren immer rivalisierende Zentren der verschiedenen islamischen Reiche.“ Und die Vision eines rein sunnitischen Herrschaftsgebietes sei eine „menschenverachtende Ideologie ohne Bezug zur islamischen Vergangenheit“.