Vor 30 Jahren - Einstieg in 35-Stunden-Woche in Deutschland

Frankfurt (APA/dpa) - Streik und Aussperrung im Kampf um die 35-Stunden-Woche erschütterten 1984 wochenlang die von Helmut Kohl regierte Bun...

Frankfurt (APA/dpa) - Streik und Aussperrung im Kampf um die 35-Stunden-Woche erschütterten 1984 wochenlang die von Helmut Kohl regierte Bundesrepublik Deutschland. 30 Jahre später verlangt die IG Metall erneut kürzere Arbeitszeiten.

Eine lachende Sonne warb für „Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen“, doch um die 35-Stunden-Woche entbrannte 1984 einer der härtesten Tarifkonflikte in der Geschichte der Bundesrepublik. Unversöhnlich waren IG Metall und Arbeitgeber in den auch politisch aufgeheizten Arbeitskampf um kürzere Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich gezogen. Nur zwei Jahre zuvor hatte CDU-Chef Helmut Kohl mit Hilfe der FDP die Kanzlerschaft übernommen und zugleich die geistig-moralische Wende ausgerufen. Die Einstellung der streikenden Metaller bewertete der Kanzler damals als „absurd, töricht und dumm“.

Sieben Wochen dauerte der Konflikt von den ersten Streiks am 14. Mai 1984 in Nordwürttemberg/Nordbaden über eine Massendemonstration mit 250.000 Teilnehmern am 28. Mai in Bonn bis zur Annahme des Schlichterspruchs des vormaligen Verteidigungsministers Georg Leber (SPD) am 28. Juni. Als zweites Streikgebiet kam eine Woche nach dem Südwesten Hessen dazu, wo ab dem 21. Mai unter anderem bei Opel in Rüsselsheim die Bänder stillstanden. Noch im selben Jahr zogen auch die Drucker nach und schafften den Einstieg in die 35-Stunden-Woche.

Die Metall-Arbeitgeber antworteten mit Aussperrungen zunächst in den Streikgebieten, schnell aber auch bundesweit, so dass bald hunderttausende Metaller vor den Werkstoren standen. Bis heute ist zwischen den Parteien die Frage umstritten, ob die Aussperrungen tatsächlich durch streikbedingte Lieferausfälle notwendig waren oder von den Arbeitgebern als gezieltes Kampfmittel eingesetzt wurden. Tatsächlich hatte die IG Metall mit der sogenannten Minimax-Strategie zentrale Zulieferer ausgesucht, um die Schlüsselbranche Auto lahmzulegen. Dass nun bundesweit Betriebe auch außerhalb der eigentlichen Streikgebiete geschlossen blieben, bezeichnete die Gewerkschaft als „kalte Aussperrung“.

Diese erhielt eine besondere strategische Bedeutung, weil der damalige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Heinrich Franke, die Auszahlung von Kurzarbeitergeld an die Ausgesperrten untersagte und die IG Metall damit finanziell unter Druck setzte. Sie hätte Streikgeld für so viele Mitglieder nie bezahlen können. Der „Franke-Erlass“ wurde von den Sozialgerichten kassiert, gab aber später Anlass für die heftig umstrittene Änderung des Paragrafen 116 im Arbeitsförderungsgesetz durch die CDU/FDP-Koalition.

Beendet wurde der Konflikt am 28. Juni 1984 durch den von beiden Seiten akzeptierten Schlichterspruch Georg Lebers. Der Vorschlag verknüpfte die auf 38,5 Stunden verkürzte Wochenarbeitszeit mit zahlreichen Flexibilisierungsmöglichkeiten. Die Arbeitgeber konnten statt des bisher geübten Gleichschritts die Belegschaften oder Teile davon dann einsetzen, wenn sie tatsächlich gebraucht wurden. „Da sind Produktivitätsreserven erschlossen worden, an die man vorher gar nicht gedacht hatte“, meint rückblickend der frühere Gesamtmetall-Tarifexperte Thomas Vajna.

„Nach dem Streik war die Fabrik eine völlig andere. Wir hatten ein ganz anderes Selbstbewusstsein“, erinnert sich Dieter Seidel. Der heutige Betriebsratschef im Daimler-Achsenwerk Kassel hatte mit seinen Kollegen sechseinhalb Wochen für die kürzere Arbeitszeit gestreikt. „Da ist es bei manchen ganz schön eng geworden.“ Dabei erhielten die Daimler-Beschäftigten noch Unterstützung aus der Streikkasse, anders als die Arbeitnehmer, die auch außerhalb der eigentlichen Streikgebiete ausgesperrt wurden.

Die 35-Stunden-Woche wurde für die Metaller im Westen dann 1995 tarifpolitische Realität, im Osten scheiterte die IG Metall hingegen mit einem Streik im Jahr 2003, so dass es dort bei 38 Stunden geblieben ist. In nahezu allen deutschen Betrieben wird bis heute faktisch länger gearbeitet, hat der Zweite IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann unlängst nüchtern festgestellt. Die Überstunden wurden anfangs noch häufig ausbezahlt, fließen inzwischen auf Langzeitkonten oder in Freischichten bei geringer Nachfrage. In Krisenzeiten wie 2008/09 dienten sie als Beschäftigungspuffer.

Die Flexibilität sei zur Einbahnstraße geworden, die nur zugunsten der Unternehmen genutzt werde, schimpft Hofmann. Die Bedürfnisse der Beschäftigten sollen nach dem Willen der Gewerkschaft künftig mehr gelten: Die Arbeitgeber müssten einen Lohnausgleich zahlen, wenn Arbeitnehmer in besonderen Lebenssituationen das Recht haben, kürzer zu treten. Für die aktuelle Tarifrunde 2014/2015 diskutiert die IG Metall eine verbesserte Altersteilzeit und Freistellungsmodelle für weiterbildungswillige Beschäftigte. Noch ist es nicht so weit, denn Gesamtmetall nennt die Vorstellungen unrealistisch. Verkürzungen der Arbeitszeit mit Lohnausgleich seien fast immer nur mit einem Arbeitskampf durchzusetzen gewesen, sagt der Mitte-Bezirkschef der IG Metall, Armin Schild, im Rückblick auf den großen Streik von 1984.