Juncker-Wahl ist eine Zäsur in der Geschichte der EU

Brüssel (APA) - Die Nominierung von Jean-Claude Juncker zum EU-Kommissionschef ist eine Zäsur in der Geschichte der Europäischen Union. Erst...

Brüssel (APA) - Die Nominierung von Jean-Claude Juncker zum EU-Kommissionschef ist eine Zäsur in der Geschichte der Europäischen Union. Erstmals wurde mit Großbritannien ein Mitgliedsland in einer so wichtigen Personalfrage überstimmt. Das Prinzip, dass die EU-Wahl über Spitzenkandidaten den EU-Kommissionspräsidenten entscheidet, dürfte damit unumkehrbar - wenn auch ungeschrieben - als Praxis verankert sein.

Für eine Klärung des britischen Verhältnisses zum Rest der EU wird das Votum beschleunigend wirken. Juncker wurde von britischen Politikern und Medien zum Feindbild eines „Erz-Föderalisten“ stilisiert, der immer mehr Kompetenzen nach Brüssel holen will. Dass der britische Premier David Cameron Juncker als Person („ein Gesicht der 80er Jahre“) und weniger mit inhaltlichen Begründungen ablehnte, betrachten EU-Diplomaten in Brüssel als eine der Fehleinschätzungen der britischen Regierungen in ihrer letztlich erfolglosen Kampagne gegen den Luxemburger.

Für den unterlegenen Cameron stellt sich die Frage, wie er weiter mit der europaskeptischen Stimmung auf der Insel umgeht. Juncker wiederum wird auf Cameron zugehen müssen, denn ein von dem britischen Premier ins Spiel gebrachter Austritt der Briten aus der Gemeinschaft dürfte letztlich nicht im Interesse beider Seiten liegen.

Mit der Personalie Juncker hat das Europaparlament einen Sieg gegenüber dem bisherigen „Kuhhandel“ der europäischen Staats- und Regierungschefs bei der Bestellung des Kommissionspräsidenten errungen. In Zukunft müssen sich Kandidaten innerhalb ihrer Parteien und in Kampagnen mit Programmen durchsetzen, anstatt dass eher farblose Kompromisskandidaten wie 2004 der damals als Überraschungskandidat präsentierte Jose Manuel Barroso in Hinterzimmer-Deals bestellt werden. Damit wären in Zukunft alle Spitzenpolitiker als Kandidaten ausgeschlossen, die sich nicht vorher im Rahmen der Europawahl aufstellen lassen.

Doch das demokratische Experiment „Spitzenkandidaten“, für das Juncker symbolisch steht, hat auch zu einer Polarisierung in der EU geführt. Das EU-Parlament hat von Anfang an damit gedroht, jeden alternativen Kandidaten abzulehnen. Dies wurde in so manchen Regierungsdelegationen als „Aufoktroyieren“ und inakzeptabler Akt empfunden, wie ein Diplomat schilderte. Gipfelchef Herman Van Rompuy und Länder wie Schweden und Ungarn pochten auf den geltenden EU-Vertrag, in dem zwar festgelegt ist, dass das Ergebnis der Europawahl berücksichtigt werden muss, aber kein Wort über „Spitzenkandidaten“ steht.

Nicht nur Cameron, dessen Tories 2009 aus der Europäischen Volkspartei (EVP) von Juncker ausgetreten sind, lehnte das „Spitzenkandidaten“-System vehement ab. Auch im Lager der Juncker-Befürworter herrscht die Sorge vor, dass damit das EU-Parlament im Gefolge dieses Machtkampfes auch bei Gesetzesprojekten viel stärker die EU-Kommission unter Druck setzen wird.

Die Bestellung Junckers zeigt auch, wie schwer sich die Regierungschefs mit dem demokratischen Experiment getan haben, und wie sehr einige die Dynamik des Projektes unterschätzten. „Kein Automatismus“ bei der Wahl des EU-Kommissionspräsidenten wurde zum Synonym für die zwiespältige Haltung, welche die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel lange in der Juncker-Frage einnahm, ehe sie unter dem Druck der Medien in ihrem Land auf eine klare Unterstützung des Luxemburgers einschwenkte.

Zumindest aus dem EU-Vokabular ist der Begriff „Spitzenkandidaten“ nicht mehr wegzudenken. Sogar im Englischen gibt es keine Alternative zu „the Spitzenkandidat“.