Ukraine - „Gesellschaft muss vom Totalitarismus geheilt werden“

Kiew (APA) - Das Ende der Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch macht sich im Archiv des ukrainischen Geheimdienstes SBU bemerkbar: Se...

Kiew (APA) - Das Ende der Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch macht sich im Archiv des ukrainischen Geheimdienstes SBU bemerkbar: Seit einigen Wochen leitet der 31-jährige Historiker Ihor Kulyk (Igor Kulik) diese Institution, und er will unbürokratisch Zugriff auf KGB-Akten gewähren. Gleichzeitig forderte er im APA-Gespräch, dass „seine“ Akten an ein ziviles Archiv übergeben werden.

Kulyks Institution, in der 175.000 Akteneinheiten des sowjetischen Komitees für Staatssicherheit (KGB) und seiner Vorgänger-Organisationen verwaltet werden, ist für die ukrainische Vergangenheitsbewältigung von zentrale Bedeutung: Hier sind Zehntausende Verbrechen des sowjetischen Staates gegen seine eigenen Bürger dokumentiert. Und gerade die historische Bewertung der Sowjetunion spielt im aktuellen politischen Konflikt mit Russland eine äußerst wichtige Rolle. An der Frage, ob Lenin ein Verbrecher oder ein „Genie der Menschheit“ sei, ob seine Denkmäler zu stürzen oder auf Hochglanz zu bringen seien, schieden sich zuletzt immer wieder die Geister.

Der aus dem westukrainischen Luzk stammende Kulyk hatte bereits während der Ära des prowestlichen Präsidenten Viktor Juschtschenko (2005-10) im SBU-Archiv gearbeitet und war dort seinerzeit für Lesesäle und Benutzerkontakte zuständig. Doch nach der Wahl von Viktor Janukowitsch zum Präsidenten sei er „gebeten“ worden, seinen Arbeitsplatz zu räumen. Anschließend arbeitete er im Kiewer „Institut zur Erforschung der Befreiungsbewegung“ als Experte für Archivfragen: „Die Archive haben damals jedoch Forschern praktisch keinen Zugriff mehr gewährt und auch kaum mehr Dossiers herausgegeben.“

Kulyk strebt nun eine Wende an - zunächst im Rahmen des geltenden Rechts: „Die Archivgesetzgebung hat in den letzten Jahren keine großen Veränderungen erfahren. Anders verhält es sich mit der Anwendung dieser Gesetze und der Praxis“, sagte er gegenüber der APA. Angesichts einer bisweilen widersprüchlichen Gesetzeslage sei unter Janukowitsch gerade auf jene Bestimmungen verwiesen worden, mit denen der Zugriff auf Akten verwehrt werden konnte.

Damit solle es nun jedoch vorbei sein, betont der Archivdirektor: Gerade das Recht von Opfern des sowjetischen Regimes und auch ihrer Nachfahren solle stets Vorrang haben und ebenso das „öffentliche Interesse“ bei der Arbeit von Forschern. Insbesondere möchte er bei der Erforschung von weißen Flecken der ukrainischen Geschichte helfen, sagte er und erwähnt die nationale Befreiungsbewegung, den Holodomor (unter Stalin staatlich ausgelöste Hungersnot Anfang der 1930er Jahre, Anm.), sowjetische Repressionen und die Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Als einen der ersten Schritte verordnete Kulyk, dass digital vorhandene Akten im elektronischen Lesesaal einfach kopiert werden können und im Archiv Akten nunmehr auch kopiert und fotografiert werden können.

Gleichzeitig arbeitet Kulyk gemeinsam mit Experten, Juristen und Parlamentariern an einem Gesetzesentwurf, der den Zugang zu sowjetischen Geheimdienstakten reglementieren und liberalisieren soll. „Wir werden uns Beispiele etwa in Tschechien, Ungarn und Polen ansehen. Wir wollen, dass diese Dokumente vom Geheimdienst an ein gewöhnliches Archiv übergeben werden“, sagt er. Ein solches Gesetz könnte noch 2014 verabschiedet werde, hofft Kuly. Darin müsse auch klar verankert werden, dass der Zugang zu den Unterlagen offen sei und nicht begrenzt werden dürfe: „Es darf keinen Weg zurück geben.“

Denn, so begründet Kulyk, die ukrainische Gesellschaft müsse vom Totalitarismus geheilt werden. Der Historiker sieht auch einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Bewertung der sowjetischen Vergangenheit und den aktuellen Ereignissen in Donezk und Luhansk (Lugansk): „Das was gerade im Osten passiert, ist ein Echo einer blinden Verehrung von Lenin-Denkmälern und dem Glauben an ein vermeintlich gutes Leben in der Sowjetunion.“

(Das Gespräch führte Herwig G. Höller/APA)