Türkei: Erdogans rhetorischer Feldzug gegen Israel
Am 10. August will sich der türkische Premierminister zum Staatspräsidenten wählen lassen. Die Gaza-Offensive wird als innenpolitisches Wahlkampfthema ausgeschlachtet. Denn an Wirtschaftsbeziehungen hält Ankara weiter fest.
Von Andrea Sieder, APA
Istanbul/Gaza - Die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel sind aufgrund der Gaza-Offensive an einem neuerlichem Tiefpunkt angelangt. Auf dem diplomatischen Parkett beflegeln sich die Kontrahenten mit Hitler-Analogien und Antisemitismus-Vorwürfen. Auf wirtschaftlicher Ebene herrscht prosperierendes Einverständnis.
„Wir verdammen das gnadenlose Massaker Israels am palästinensischen Volk, das einer kollektiven Bestrafung gleichkommt“, erklärte Vizepräsident Bülent Arinc vor Journalisten. Die Regierung ordnete am Dienstag eine dreitägige Staatstrauer wegen der Opfer im Gazastreifen an. Es ist ein Akt, der gewöhnlich Katastrophen im eigenen Land vorbehalten bleibt.
IHH will erneut Schiff nach Gaza schicken
Wegen der neuen Krise wurde auch die Entschädigung für das Aufbringen des türkischen Schiffes „Mavi Marmara“ durch Spezialeinheiten der israelischen Armee im Mai 2010 wieder auf Eis gelegt. Bei der Operation vor mehr als vier Jahren wurden insgesamt neun türkische Aktivisten getötet. Eine Einigung hätte eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern einläuten sollen.
Die der AKP nahestehende islamisch-türkische Stiftung für humanitäre Hilfe (IHH) hatte damals den Versuch unternommen, mit einem gecharterten Schiff im Gefolge der Gaza-Flottille Israels Seeblockade des Gaza-Streifens zu durchbrechen um Hilfsgüter an die Palästinenser zu liefern. In einer aktuellen Erklärung ließ die IHH wissen, dass sie neuerlich ein Schiff ausrüsten werde. Die IHH steht im Verdacht, neben humanitärer Hilfe auch Waffentransporte unter dem Schutz des türkischen Geheimdienstes nach Syrien vorzunehmen.
Die beinahe bei Null angelangten diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und Israel seit der „Mavi Marmara“-Krise hat sich nicht in den Wirtschaftsbeziehungen niedergeschlagen. Im Vorjahr überschritt das Handelsvolumen zwischen den beiden Staaten nach Angaben des türkischen Wirtschaftsministeriums die fünf Milliarden-Dollar-Marke. Im Jahr 2009 lag dieses noch bei 3,4 Milliarden Dollar (2,52 Mrd. Euro).
So fließt kurdisches Öl aus dem Nordirak über den türkischen Ölhafen Ceyhan nach Israel, wie Reuters und das „Wall Street Journal“ einhellig berichteten. Türkischen Medien zufolge liefert Israel seit Jahren Kriegsgeräte an die Türkei, und diese soll im Gegenzug Treibstoff für israelische Kampfjets beisteuern. Die türkische Regierung dementierte bestehende Waffen- und Energie-Deals mit Israel.
Präsidentschaftswahlen am 10. August
Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hatte bei einer Wahlveranstaltung am Sonntag die israelische Regierung für ihr brutales Vorgehen im Gazastreifen und den unverhältnismäßigen Blutzoll angeprangert. Mit seiner Aussage, die Israelis hätten Hitler in Sachen Barbarei übertroffen, hat der wahlkämpfende Premier die anti-israelische Stimmung im Land weiter angeheizt und den diplomatischen Beziehungen zu einem neuerlichen Tiefpunkt verholfen.
Einen Tag zuvor in Bursa kritisierte er eine „neue Kreuzritter-Allianz“ und geißelte es als „bizarr“, dass die westlichen „Weltführer“ Israel das Recht auf Selbstverteidigung zubilligten, während einzig Palästinenser ums Leben kämen. Außenminister Ahmet Davutoglu ließ am selben Tag bei einer AKP-Veranstaltung fallen, man werde „Tag und Nacht arbeiten, um die Kolonialisten aus der Region (des Nahen Ostens) zu entfernen“.
Der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu warf Erdogan daraufhin Antisemitismus vor. Nach Ansicht des israelischen Journalisten Arad Nir vom israelischen Sender Channel 2 News geht Erdogan mit anti-israelischer und antisemitischer Rhetorik auf Stimmenfang. Erdogan will sich am 10. August zum Staatspräsidenten wählen lassen, und danach weiter die aktive Rolle in wichtigen Bereichen wie der Außenpolitik beibehalten. Davutoglu wird für den Posten des Übergangspremiers bis 2015 gehandelt. Eine von der AKP anvisierte Verfassungsänderung soll dem Land ein Präsidialsystem bescheren und Erdogans politische Zukunft für die nächsten Jahre sichern.
Verkaufsstopp für Produkte
Am Freitag hatten türkische Demonstranten aus Protest gegen die Bodenoffensive im Gazastreifen diplomatische Vertretungen Israels in Istanbul und Ankara angegriffen. Unter den Protestierenden vor der Istanbuler Vertretung fand sich auch die jüngste Tochter des türkischen Regierungschefs, Esra Albayrak. Israel zog in Folge Diplomaten ab und warnte vor Reisen in die Türkei.
Doch Erdogan ist nicht der einzige türkische Politiker, der politischen Profit aus der Gaza-Krise ziehen möchte. Auch die größte Oppositionspartei CHP hat bereits angekündigt, sie wolle nächste Woche mit einer Delegation nach Gaza reisen.
Während die türkische Regierung einen Aufruf von Wirtschaftstreibenden, die Handelsbeziehungen mit Israel auszusetzen, mit Blick auf einen möglichen Schaden für die Palästinenser zurückwies, mehren sich die Rufe nach einem Verkaufsstopp für israelische Produkte. Ein türkischer Konsumentenverein feilt an einer „Blacklist“ für Israel unterstützende Firmen, darunter Coca Cola, McDonalds oder Starbucks, schreibt die englische Ausgabe der „Hürriyet“. In Israel werden laut CNN Türk in einigen Supermarktketten ebenfalls türkische Waren aus den Regalen geräumt.
Hasan Ünal, Experte für internationale Beziehungen an der türkischen Atilim Universität, betonte in einem Interview mit der Zeitung „Al Monitor“, ein Boykott würde Israel kalt lassen. Die Türkei liefere keine lebensnotwendigen Güter nach Israel. Sollte die Türkei dennoch Sanktionen etablieren, schneide sie sich ins eigene Fleisch, denn das Land sei für Exporte in den Nahen und Mittleren Osten von den israelischen Häfen Ashdod und Haifa abhängig. (APA)