Ein Jahr nach Zugsunglück in Spanien: Opfer verlangen Gerechtigkeit

Santiago de Compostela (APA/dpa) - Ein Hochgeschwindigkeitszug biegt mit etwa 190 km/h in eine enge Kurve, in der 80 km/h erlaubt sind. Der ...

Santiago de Compostela (APA/dpa) - Ein Hochgeschwindigkeitszug biegt mit etwa 190 km/h in eine enge Kurve, in der 80 km/h erlaubt sind. Der Lokführer zieht die Bremsen, aber es ist zu spät. Der Zug springt aus den Schienen, Waggons verkeilen sich ineinander, einer fliegt über eine Betonmauer hinweg. 79 Menschen kommen bei dem Unglück am Donnerstag (24. Juli) vor einem Jahr im Nordwesten Spaniens ums Leben, etwa 150 werden verletzt.

Die Katastrophe nahe der Pilgerstadt Santiago de Compostela war das schwerste Zugsunglück in Spanien seit mehr als 40 Jahren und der erste tödliche Unfall auf einer Strecke des spanischen Hochgeschwindigkeitsnetzes. Ein Jahr nach der Tragödie ziehen die Ermittlungen der Justiz sich hin. Bei den Hinterbliebenen macht sich Verbitterung breit. Sie fordern „Wahrheit und Gerechtigkeit.“

„Man hat uns die Hochgeschwindigkeitsstrecke als sicher verkauft, aber das war eine Lüge“, beklagt ein Zusammenschluss von Betroffenen. „Nun will man den Lokführer zum Alleinschuldigen machen.“ Die von Opfern und Hinterbliebenen geforderte Einberufung eines Untersuchungsausschusses im Parlament scheiterte am Widerstand der großen Parteien der Konservativen (PP) und der Sozialisten (PSOE).

Dabei ist unbestritten, dass der Zug, der sich auf der Fahrt von Madrid nach El Ferrol befand, viel zu schnell in die Kurve einbog. Dies gab auch der Lokführer zu. In seiner Vernehmung sagte er aus, der Anruf eines Schaffners auf seinem Handy habe ihn abgelenkt. Der Bericht einer Expertenkommission des Verkehrsministeriums kommt zu dem Schluss, dass die überhöhte Geschwindigkeit die Ursache des Unglücks und der Lokführer der Verantwortliche gewesen sei.

Die Angehörigen der Opfer weisen das Gutachten jedoch als wertlos zurück, weil es parteiisch sei und darauf abziele, die Chefs der Bahn gegen Vorwürfe in Schutz zu nehmen. Der Ermittlungsrichter Luis Alaez sieht das ähnlich. Nach seiner Ansicht ist die Eisenbahngesellschaft Adif mitverantwortlich, weil die Sicherheitsvorkehrungen unzureichend gewesen seien.

Vor der Unglücksstelle hatten die Züge die Geschwindigkeit abrupt von 200 auf 80 km/h drosseln müssen. Ein modernes System, das den Zug automatisch abgebremst hätte, war abgeschaltet worden, weil es Probleme mit dem Computerprogramm gegeben hatte.

„Die Bahn hat das Leben von Tausenden Fahrgästen aufs Spiel gesetzt“, stellte der Ermittlungsrichter fest. Nach seiner Ansicht wäre das Unglück vermeidbar gewesen, wenn die Bahn in dem Streckenbereich bessere Sicherheitsvorkehrungen installiert hätte. Der Richter erklärte mehr als 20 Techniker und Manager des Staatsbetriebs Adif, der für die Infrastruktur der Gleisanlagen zuständig ist, zu Beschuldigten und leitete Ermittlungen gegen sie ein.

Das Landgericht in La Coruna pfiff den Richter jedoch zurück. Aber der Ermittler gab sich nicht geschlagen. Alaez lud die gesamte Adif-Spitze, die die Strecke geplant und genehmigt hatte, als Beschuldigte zu Vernehmungen vor. Allerdings musste der Richter bald feststellen, dass er einen einsamen Kampf führte: Die Bahnmanager verweigerten die Aussage; die Bahn zögerte die Vorlage angeforderter Unterlagen hinaus; und die Staatsanwaltschaft lehnte Ermittlungen gegen die Adif-Chefs ab. Im Frühjahr beantragte der Ermittler „aus persönlichen Gründen“ seine Versetzung. Zurzeit ist der Nachfolger Andres Lago dabei, sich in den Fall einzuarbeiten.