Israelkritik und Antisemitismus
Die Kritik an der Politik des Staates Israel ist für sich genommen noch nicht antisemitisch und antijüdisch. Doch die oft vorherrschende Einäugigkeit der Kritik allerdings schon. Kritik an einem aufkeimenden Hass.
Von Anton Pelinka
Im Nahen Osten herrscht Krieg. In Syrien und im Irak morden systematisch muslimische Araber andere muslimische Araber – weil sie Sunniten oder Schiiten sind, weil sie für oder gegen eine bestimmte Regierung eintreten, oder weil sie einer bestimmten Ethnie, einem bestimmten Stamm angehören. Zehntausende sind diesem Morden innerhalb der letzten Jahre zum Opfer gefallen. Wer zählt noch die Opfer dieser Gewalt? Wer erregt sich – in Österreich, in Europa – über muslimische Opfer, solange die Täter Muslime sind? Wenn allerdings der Staat Israel als Verantwortlicher am Tod muslimischer Araber ausgemacht werden kann, dann ist das ganz anders. Dann wird demonstriert – gegen Israel.
Einäugigkeit der Kritik
Es ist nicht Kritik an der Politik des Staates Israel, die als antijüdisch, als antisemitisch zurückzuweisen ist. Die israelische Regierung kann kritisiert werden, soll kritisiert werden – und es sind ja auch die kritischen Stimmen der israelischen Opposition, die der israelischen Demokratie eine Lebendigkeit und Offenheit verleihen, die jede Demokratie braucht. Es ist die Einäugigkeit der Kritik, die antisemitisch, die antijüdisch ist.
Dass sich rund um und in Gaza ein inzwischen längst bekanntes, tragisches Ritual abspielt; dass die israelischen Streitkräfte Raketenbasen der Hamas zerstören und dabei auch unbeteiligte Palästinenser töten, ist nicht nur menschlich zu beklagen. Es kann auch die kritische Frage gestellt werden, warum Israel nicht einen Weg findet, aus der sich wiederholenden Spirale von Gewalt und Gegengewalt auszubrechen. Man kann die israelischen Militärschläge für unverhältnismäßig halten – oder auch als Methode, die letztlich nicht an die Wurzel der Gewalt geht. Aber man kann, will man sich nicht einer intellektuell und moralisch nicht akzeptablen Einseitigkeit schuldig machen, nicht einfach die Raketen ignorieren, die von der Hamas (oder von Fraktionen innerhalb dieser Fraktion) auf Israel abgefeuert werden. Man kann die kritische Frage stellen, ob sich die israelische Regierung nicht von der Hamas eine Dramaturgie aufzwingen lässt, die in letzter Konsequenz nicht im Interesse Israels und erst recht nicht des Friedens liegt. Aber man kann nicht übersehen, dass Israel keine Raketen nach Gaza feuert, wenn nicht zuerst Raketen aus Gaza nach Israel geschossen werden.
Sieht man Israel als Normalstaat, so ist festzuhalten, dass Israel die einzige Demokratie in der Region ist, in der freie Medien und eine freie Opposition existieren, in der ein lebendiges Mehrparteiensystem eine offene Gesellschaft signalisiert. Zu dieser demokratischen Offenheit gehört – selbstverständlich – auch Kritik; auch Kritik von außen. Es fällt freilich auf, dass Israel eben nicht als Normalstaat gesehen wird. Israel schlägt ein besonderer Hass entgegen.
Dass es Israel überhaupt gibt, hat eine Geschichte. Zu der gehört die Vertreibung der Jüdinnen und Juden durch die Römer ebenso wie der Massenmord christlicher Kreuzfahrer an den Juden und Muslimen in Jerusalem; dazu zählt das Versprechen der britischen Regierung von 1917, in Palästina für eine Heimstatt der Juden zu sorgen; dazu gehört der 1947 von den Vereinten Nationen verabschiedete Plan, Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat zu teilen – ein Plan, der von jüdischer Seite akzeptiert, von allen arabischen Staaten aber abgelehnt wurde. Dazu gehört die Politik dieser arabischen Staaten, die Existenz Israels nicht anzuerkennen, ja, den jüdischen Staat gewaltsam vernichten zu wollen – eine Politik, von der erst nach Jahrzehnten zunächst Ägypten und dann Jordanien abgerückt sind und die von der Hamas weiterhin vertreten wird, ebenso vom (nicht-arabischen) Iran.
Israel der Widersprüche
Die israelische Gesellschaft hat ihre Widersprüche: die zwischen religiösen und säkularen Juden; die zwischen Juden mit europäischem (askenasischem) und orientalischem (sephardischem) Hintergrund; die zwischen einem „Friedenslager“, das einen Schlussstrich hinter die Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten der Westbank ziehen will, und anderen Interessen, die den Mangel an Friedensbereitschaft auf arabischer Seite mit einer Expansionspolitik beantworten. Es ist wichtig, auf die Menschenrechtssituation in Israel zu verweisen – etwa auf den ungeklärten Status der Bewohner in den besetzten Gebieten; auch darauf, dass es Strömungen im orthodoxen Judentum gibt, die eine Gleichberechtigung der Frauen ablehnen.
Primitiver Judenhass
Das alles kann und soll kritisch beleuchtet werden. Freilich: Kritisch beleuchtet soll auch werden, dass arabische Medien, auch und gerade Schulbücher, einem primitiven Judenhass das Wort reden; dass die meisten Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga nach wie vor nicht bereit sind, dem ägyptischen und jordanischen Beispiel zu folgen und die Existenz Israels anzuerkennen; dass die islamische Republik Iran, ausgestattet mit einem Nuklearpotential, ganz offen die Vernichtung Israels predigt. Kritisch zu analysieren ist auch das Fehlen religiöser Freiheit in Saudi-Arabien und in den anderen Golfstaaten – und die prinzipielle Verweigerung grundlegender Rechte für Frauen in diesen Staaten.
Die Menschenrechte der Araber israelischer Staatsbürgerschaft sind ganz eindeutig besser gesichert und respektiert als die Menschenrechte von Arabern saudi-arabischer Staatsbürgerschaft. Um die politische Freiheit von Arabern im israelischen Nazareth ist es besser bestellt als um die politische Freiheit der Araber in Syrien und in manchen Staaten Nordafrikas, die vor mehr als drei Jahren ihren „Arabischen Frühling“ erleben konnten. Doch wer demonstriert in London und Paris, in Wien und in Innsbruck für die Rechte der Araber in den arabischen Staaten?
Wenn alle Aspekte der explosiven Gemengelage im Nahen Osten kritisch berücksichtigt werden, dann ist es legitim, auch die israelische Politik zu kritisieren. Wenn allerdings Israel als der große, ja der einzig Schuldige an der bedrohlichen Gewaltspirale herausgegriffen wird, dann wird aus einer legitimen Kritik eine antijüdische Einseitigkeit; dann wird deutlich, dass arabische Opfer nur der Vorwand sind, um gegen den Staat der Juden zu mobilisieren. Bei einer solchen Kritik geht es nicht um die Palästinenser in Gaza. Es geht um die Existenz Israels.