Chaos in Kiew: Neuwahlen sollen schwere Krise in der Ukraine beenden
Kiew (APA/dpa) - Eine schwere Regierungskrise verschlimmert die Lage in der Ukraine weiter - in einem Moment, in dem die Gefechte der Armee ...
Kiew (APA/dpa) - Eine schwere Regierungskrise verschlimmert die Lage in der Ukraine weiter - in einem Moment, in dem die Gefechte der Armee gegen die prorussischen Separatisten immer verlustreicher werden. Nach nur fünf Monaten im Amt wirft Ministerpräsident Arseni Jazenjuk (40) nach dem Scheitern wichtiger Reformgesetze das Handtuch. Vorgezogene Parlamentswahlen sollen nun einen politischen Neuanfang bringen.
Der Urnengang könnte am 26. Oktober stattfinden. Viele Ukrainer fürchten, dass ein schmutziger Wahlkampf in Kriegszeiten das krisengeschüttelte Land lähmen und weiter spalten wird. Zumal in den umkämpften Regionen Donezk und Lugansk eine reguläre Wahl derzeit unvorstellbar ist. Und auch die Aufklärung des Flugzeugabsturzes wird wegen des Wahlkampfs kaum vorankommen. Die Ex-Sowjetrepublik taumelt wie ein schwer angeschlagener Boxer.
Staatspräsident Petro Poroschenko kommen Neuwahlen nicht ungelegen. Er hatte den Bürgern beim Amtsantritt Anfang Juni eine vorgezogene Abstimmung versprochen. Der prowestliche Politiker hofft darauf, bei dem Urnengang seine Machtbasis in der Obersten Rada auszubauen. Doch Experten warnen, dass Poroschenko die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben könnte. Die Popularität seines Parteiprojekts Solidarnost (Solidarität) schwindet. Nach seinem Wahlsieg im Mai lagen die Prognosen noch bei 40 Prozent. Zuletzt waren Umfragen zufolge aber nur noch 28 Prozent der Ukrainer bereit, für Solidarnost zu stimmen.
Jazenjuk halte sich mit dem Rücktritt die Möglichkeit auf ein Comeback offen, meint der Politologe Taras Beresowez. „Jazenjuk ist erneut in die große Politik zurückgekehrt“, sagt er. Kritischer sieht das der Politikwissenschaftler Wladimir Fessenko: „Er hat sich aus dem Regierungsflugzeug herauskatapultiert, das in eine schwierige Situation geraten ist und zum Teil die Kontrolle verloren hat.“
Der einst als Reformer angetretene Jazenjuk gilt vorerst als gescheitert. Er macht dafür den Populismus seiner bisherigen Koalitionspartner verantwortlich - der Partei Udar (Schlag) von Vitali Klitschko und der nationalistischen Swoboda-Partei. „Wer möchte unpopulären Gesetzen zustimmen und gleichzeitig bei Wahlen antreten?“, fragt Jazenjuk. Es geht um Gesetze, die das Leben der Menschen in der früheren Sowjetrepublik deutlich teurer machen.
Jazenjuks letztlich gescheitertes Reformpaket hätte 570 Millionen Euro für die Armee und 443 Millionen Euro für den Wiederaufbau im kriegszerstörten Osten des Landes gebracht. Dafür hätten jedoch Pensionisten und Geringverdiener den Gürtel noch enger schnallen müssen. Ihnen wäre der beispielsweise der Inflationsausgleich gestrichen worden. Der Politologe Wadim Karassjow meint dazu: „Jazenjuk hat recht, dass in Zeiten von Krieg und Krisen Einsparungen nötig sind.“
Wirtschaftlich steht die Ukraine kurz vor dem Abgrund, der Krieg gegen die Aufständischen droht das Land vollends in die Katastrophe zu stürzen. Unternehmen entlassen Mitarbeiter oder schließen gleich ganz. Die Inflationsrate liegt bei zwölf Prozent, und die Regierung erwartet bis Ende des Jahres 19 Prozent Preissteigerung. Die Wirtschaft droht um mehr als sechs Prozent zu schrumpfen. Außerdem rechnet das Finanzministerium mit einem massiven Budgetloch von etwa zwei Milliarden Euro. Nicht zu vergessen die Milliardenschulden bei Russland für Gaslieferungen.
Woher dieses Geld kommen soll, darauf gab die jetzt zerbrochene Regierungskoalition nie eine schlüssige Antwort. Die Staatskassen waren angeblich bereits leer, als der damalige Präsident Viktor Janukowitsch im Februar ins russische Exil gejagt wurde. Danach sollten Budgetkürzungen, Tarif- und Steuererhöhungen und erste Zahlungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Höhe von 3,2 Milliarden Dollar (rund 2,4 Milliarden Euro) die Wende bringen. Aber inzwischen weiß niemand, wie das Land über den Winter kommen soll.
Mit Neuwahlen gehe die politische Klasse in der Ukraine ein hohes Risiko ein, warnen Experten in Kiew. Die Vaterlandspartei von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko, der weiter Chancen zugerechnet werden, bringt sich bereits in Stellung. Jazenjuks Rücktritt sei ein „Schlag in den Rücken aller Patrioten“, er habe „eine zweite Front gegen die Ukraine geschaffen“, erklärt die Partei. Politologen warnen aber vor solch internem Zwist im Wahlkampf. Wenn den prowestlichen Kräften nicht der Schulterschluss gelinge, drohe ein Erfolg der Rechtspopulisten.