Streiter für Gerechtigkeit - Sozialphilosoph Oskar Negt wird 80

Hannover (APA/dpa) - Zentral ist für den Sozialphilosoph Oskar Negt seit jeher die Frage, wie die Menschen friedlich in einem freien Europa ...

Hannover (APA/dpa) - Zentral ist für den Sozialphilosoph Oskar Negt seit jeher die Frage, wie die Menschen friedlich in einem freien Europa zusammenleben können. Derzeit sieht er mit Bestürzung die Gefahr einer rechtsradikalen Entwicklung in einigen Ländern. „Das gründet auf den Lücken und Löchern der Brüsseler Politik, die die sozialen Belange der Menschen nicht mitdenkt“, so Negt, der am Freitag (1. August) 80 wird.

Die Flucht aus Ostpreußen als Elfjähriger prägte Oskar Negt für sein weiteres Leben. Womöglich habe er nur überlebt, weil er 1945 in ein kleines Schiff, und nicht etwa in die „Gustloff“ gestiegen sei, sagt der Soziologe und Philosoph in seiner Wohnung in Hannover. „Insgesamt sind 40.000 Menschen auf der Flucht innerhalb von sechs Wochen in der Ostsee ertrunken.“ Zweieinhalb Jahre verbrachte der Bub danach getrennt von seinen Eltern mit zwei älteren Schwestern in einem Lager in Dänemark.

Als junger Wissenschafter profilierte er sich als ein Wortführer der Studentenbewegung, als Soziologieprofessor gründete er 1972 eine Reformschule in Hannover, die bis heute existiert. Politiker suchten stets den Rat des „SPD-Sympathisanten“, wie er sich selbst bezeichnet. Außenminister Frank-Walter Steinmeier sagt über seinen Freund und früheren Nachbarn Negt: „Ich vermisse unsere politischen Debatten zu hannoverschen Zeiten am frühen Samstagmorgen zwischen Obsttheke und Kühlregal im Supermarkt.“

Er sei intellektuellen Impulsgebern wie Oskar Negt gerade in Zeiten dankbar, in denen die deutsche Außenpolitik vor den Herausforderungen einer immer komplexeren Welt steht, betont Steinmeier. „Mit seiner zeitdiagnostischen Schärfe hat er es stets auf bewundernswerte Weise verstanden, gesellschaftliche Widersprüche zu ergründen und sichtbar zu machen.“

Ganz gleich, ob es um den aktuellen Zustand der Parteien, Bildung, die deutsche Theaterlandschaft oder soziale Gerechtigkeit in Europa geht - Oskar Negt formuliert druckreif. Das mag an seiner Arbeitsweise liegen: Er diktiert und lässt abschreiben. Gerade ist er von einem Studienaufenthalt in Wien zurückgekehrt. Auf seinem Schreibtisch liegt ein 280-seitiges Manuskript, der erste Teil seiner Biografie. Die Doktoranden im Institut für Kulturwissenschaften seien schon etwas verblüfft über dieses Arbeitsergebnis innerhalb kurzer Zeit ganz ohne Computer gewesen, erzählt er amüsiert.

Negt erinnert sich an viele Details seiner ersten Jahre in Kapkeim bei Königsberg. „Ich hatte einen Freiheitsspielraum, der sehr bemerkenswert war.“ Sein Vater sei der einzige sozialdemokratische Bauer weit und breit gewesen. „Keines meiner Geschwister ist jemals für irgendetwas bestraft worden.“ Es sei völliger Quatsch, Angst für ein Erziehungsmittel zu halten. „Philosophie des aufrechten Ganges“ heißt Negts Streitschrift für eine Schule, in der Buben und Mädchen angstfrei lernen. Die vor über 40 Jahren von ihm nach diesem Konzept gegründete Glocksee-Schule besuchten auch seine vier eigenen Kinder.

Zum 80. Geburtstag erscheint im Göttinger Steidl Verlag die komplette Werkausgabe in 19 Bänden - damit sind alle bedeutenden Schriften des Sozialphilosophen wieder erhältlich. Negt wird nicht müde, für die Demokratie zu streiten, stets freundlich und nie verbittert. Aktuell fordert er vor allem einen Wertewandel. Selbst in Bildungs- und Kultureinrichtungen sei das Geld zum bestimmenden Faktor geworden, kritisiert er: „Erstmals in der Geschichte ist unsere Gesellschaft durchgängig nach Marktgesetzen organisiert.“