Geiselnehmer und zwei Geiseln nach Drama in Café in Sydney tot
Nach dem Geiseldrama in Sydney, in dem ein Mann 15 Stunden lang Geiseln hielt, sind neben dem Geiselnehmer noch zwei weitere Tote zu beklagen.
Sydney – 15 Stunden lang hielt eine Geiselnahme Australien in Atem: Ein bewaffneter mutmaßlicher Jihadist stürmte Montagvormittag kurz vor 10 Uhr (Ortszeit) in ein Café in der australischen Metropole und nahm mehrere Geiseln. Die Polizei stürmte das Gebäude gegen 2.20 Uhr Ortszeit (16.20 MEZ). Zeugen zufolge waren auch Schüsse zu hören. Nur kurz zuvor gelang mindestens sechs mutmaßlichen Geiseln die Flucht aus dem Gebäude. Wieviele Menschen genau der Täter über 15 Stunden lang in seiner Gewalt hielt, war nicht bekannt. Kurz vor 3 Uhr Ortszeit verkündete die Polizei über den Kurznachrichtendienst Twitter, die Geiselnahme sei beendet.
Kurz vor 6 Uhr Ortszeit bestätigte die Polizei schließlich auch, dass drei Menschen bei der Geiselnahme starben. Der Geiselnehmer selbst erlag seinen Verletzungen kurz nach der Erstürmung des Cafés im Krankenhaus. Auch zwei der Geiseln mussten im Krankenhaus für tot erklärt werden. Vier Personen wurden demnach verletzt, darunter ein Polizist. Die Polizei stürmte das Gebäude laut Polizeichef Andrew Scipione, weil im Inneren Schüsse gefallen seien. Der ganze Einsatz wurde von Fernsehsendern live übertragen.
Geiselnehmer war polizeibekannt
Fernsehsender zeigten zuvor das „Lindt Chocolat Café“ am Martin Place, in dem mehrere Menschen mit erhobenen Händen an den Fenster lehnten. Der Australien-Chef des Schweizer Schokoladenherstellers Lindt, Steve Loane, sagte dem Sender Sky Business zuvor, in dem Lokal hielten sich anfangs rund zehn Mitarbeiter und schätzungsweise 30 Kunden auf. Der Geiselnehmer, offenbar ein polizeibekannter 49-Jähriger, verlangte eine Flagge der Terrormiliz Islamischer Staat und ein Telefonat mit dem australischen Premier Tony Abbott. Der Mann habe Geiseln per Telefon für sich mit Medien sprechen lassen, berichtete der Sender CNN. Einige Geiseln hatten unbestätigten Medienberichten zufolge via Handy Kontakt zu Freunden und Familie. Am Abend war zu sehen, wie eine Angestellte das Licht im Lokal ausschaltete.
Polizeipsychologen hatten mit dem Geiselnehmer verhandelt. „Das mag eine Weile dauern“, sagte die stellvertretende Polizeichefin Catherine Burn. Oberste Priorität sei es, den Zwischenfall friedlich zu beenden. Es gebe inzwischen Erkenntnisse, was der Mann womöglich wolle, sagte Burn weiter, nannte aber keine Details. Die Polizei appellierte an die Medien, über mögliche Forderungen nicht zu berichten. Fernsehsender filmten den Geiselnehmer durch ein Fenster des Cafés. Auf den Videobildern war ein Mann mittleren Alters mit grauem Bart, einem Kopftuch mit arabischen Schriftzeichen und einem schwarzen Rucksack zu sehen. Der Mann befindet sich laut Medienberichten derzeit auf Kaution in Freiheit. Ihm werde in einem Fall vorgeworfen, den Mord an seiner Ex-Frau in Auftrag gegeben zu haben. Er sei zudem bereits für andere Taten verurteilt worden, berichtete der TV-Sender 9News. Ebenfalls vorgeworfen wird ihm, mehrere Frauen sexuell missbraucht zu haben, als er als „spiritueller Heiler“ gearbeitet habe. Polizeibekannt soll er zudem sein, weil er Hassbriefe an Familien australischer Soldaten, die im Auslandseinsatz getötet wurden, geschrieben haben soll.
Teheran hat die Geiselnahme scharf verurteilt und den ausgewanderten iranischen Geiselnehmer als geistesgestört bezeichnet. Der Iran habe die australischen Behörden mehrmals über den gestörten mentalen Zustand des iranischen Predigers informiert, sagte Außenamtssprecherin Marzieh Afkham (Afcham) am Montag in einer Presseerklärung. Der Mann sei schon vor fast 20 Jahren nach Australien ausgewandert und habe dort Asyl beantragt, so die Sprecherin.
Fünf Menschen entkamen im Laufe des Tages aus dem Café. Die Polizei wollte nicht sagen, ob der Geiselnehmer sie freiließ oder ob sie flüchteten. Sie rannten teils weinend mit erhobenen Händen und offenbar unter Schock aus dem Eingang des Gebäudes. Erkenntnisse, die die Polizei aus den Gesprächen mit den Entkommenen gewann, machte sie zunächst nicht publik. Kurz nach 2 Uhr Ortszeit (16 Uhr MEZ) konnten laut Berichten der britischen Zeitung „The Guardian“ weitere Geiseln aus dem Café entkommen. Kurz zuvor soll es einen Knall gegeben haben.
Ausnahmezustand in der Innenstadt
Die Umgebung des Cafés mitten im Geschäftsviertel wurde von der Polizei weiträumig abgesperrt. Gebäude in unmittelbarer Nähe wurden teils geräumt. Dazu gehörten auch die Studios und der Newsroom des TV-Senders Channel Seven, der direkt gegenüber dem Café seine Räumlichkeiten hat. Von diesem Sender stammten die Bilder der Geiseln, die gezwungen wurden, die schwarze Flagge an den Fenstern des Cafés hochzuhalten. Kameraleute nahmen die Bilder auf, bevor sie von bewaffneten Polizisten nach draußen begleitet wurden.
Die Polizei sperrte die Gegend rund 200 Meter um den Tatort herum ab. Hunderte, wenn nicht Tausende Leute in Gebäuden rund um den Martin Place mussten ihre Arbeitsplätze verlassen. Sie wurden teils über Leitern evakuiert. Menschen standen auf der Straße und telefonierten mit Verwandten und Freunden, wie TV-Bilder zeigen. Auch das US-Konsulat, das sich ebenfalls beim Martin Place befindet, brachte seine Angestellten in Sicherheit und reduzierte den Betrieb auf das Nötigste. Die Atmosphäre glich laut Journalisten vor Ort der einer Geisterstadt – eine ungewohnte Szenerie zehn Tage vor Weihnachten, wenn normalerweise große Menschenmengen ihre Geschenkeinkäufe tätigen.
Empörung über „Tatort-Selfies“
Dass Touristen massenhaft Selfies schießen, ist an Sydneys bekanntesten Plätzen Alltag. Doch heute sorgen die auf Facebook und Twitter geposteten Fotos für Empörung: Einige Schaulustige hatten Fotos von sich vor dem Schauplatz der Geiselnahme ins Internet gestellt – im Hintergrund Polizeiabsperrungen, Polizisten mit kugelsicheren Westen und Fernsehkameras. Versehen mit allerlei Schimpfwörtern verbreiteten sich die Bilder in Windeseile in den sozialen Netzwerken. Rufe wurden laut, die Polizei solle etwas dagegen unternehmen.
Die Polizei ging im Lauf des Tages nach eigenen Angaben mehrmals Hinweisen aus der Bevölkerung wegen angeblich verdächtiger Gegenstände nach. Sämtliche Hinweise erwiesen sich aber als Fehlalarm. Offenbar aufgrund eines solchen Hinweises wurde auch das Opernhaus am Vormittag evakuiert. Der Platz vor dem ikonischen Gebäude, der täglich ein Anziehungspunkt für Touristen ist, blieb ungewohnt leer. In Australien beginnt gerade der Sommer. Es ist Hochsaison in Sydney. In der Stadt dürften Zehntausende Touristen sein.
Australiens Regierungschef Tony Abbott sagte am Morgen, es gebe Anzeichen für einen politischen Hintergrund. Polizeichef Andrew Scipione betonte aber, er könne einen Terrorhintergrund zunächst nicht bestätigen. Der Großmufti Australiens verurteilte die Geiselnahme in einer Stellungnahme als kriminellen Akt. „Solche Aktionen werden im Islam verurteilt“, teilte Ibrahim Abu Mohamed mit. Der Vorsitzende der libanesischen Muslime, Samier Dandan, sagte imRundfunk: „Wenn die muslimische Gemeinde irgendetwas tun kann – wir sind bereit.“ Aus Sorge vor anti-muslimischen Vorfällen wegen der Tat boten zahlreiche Einwohner Sydneys am Montag an, muslimische Mitbürger auf ihrem Weg durch die Stadt, etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln, zu begleiten. Während die Geiselnahme noch im Gange war, wurden am Montag auf Twitter fast 120.000 Tweets unter dem Hashtag #illridewithyou gepostet. Den Anfang hatte eine junge Frau gemacht, die per Twitter schilderte, wie eine junge Muslimin vor dem Aussteigen aus dem Zug ihr Kopftuch herunternahm. Als sie daraufhin der Frau anbot, sie zu begleiten, sei diese in Tränen ausgebrochen und habe sie umarmt.
Stichwort: Terror-Sympathisanten in Australien
Der australische Geheimdienst (ASIO) hat bereits vor einiger Zeit vor Anschlägen muslimischer Extremisten in dem Land gewarnt. „Wir sind besorgt, dass Einzelpersonen sich vom Konflikt in Syrien inspirieren lassen und hier Terroranschläge verüben“, hatte er im September an das Parlament berichtet.
„Rückkehrer sind wahrscheinlich radikalisiert und haben Kenntnisse, Erfahrung und Netzwerke, um Anschläge mit vielen Opfern in Australien und anderen westlichen Ländern zu verüben“, hieß es in dem Bericht.
Nach Schätzung von ASIO kämpften im Juli etwa 60 Australier aufseiten der Extremisten. Generalstaatsanwalt George Brandis ging im November von 70 bis 90 aus. Fast ein Viertel sei umgekommen. Die Behörden haben mindestens 60 Sympathisanten die Pässe entzogen.
Im September hatte die Polizei nach eigenen Angaben Pläne vereitelt, einen Passanten auf offener Straße zu entführen, zu köpfen und ein Video davon zu veröffentlichen. Der in Syrien kämpfende Australier Mohammad Ali Baryalei soll einen Anhänger in Sydney direkt mit dem Anschlag beauftragt haben. Es folgte die größte Anti-Terror-Razzia in der australischen Geschichte mit Durchsuchungen in Sydney und Brisbane. 15 Menschen wurden teils vorübergehend festgenommen
Australien ist seit September unter erhöhtem Terroralarm. Es gilt Alarmstufe drei der vierstufigen Skala, was bedeutet: „Terroranschlag wahrscheinlich“. Bei einer Großrazzia vereitelte die Polizei im September nach eigenen Angaben einen Anschlag mit Enthauptung auf australischem Boden. (tt.com, APA/dpa/AFP/Reuters)