Literatur

Ein Buch als Bausatz

Ein Roman in Fußnoten: Mit seinem „Kraus-Projekt“ stimmt der gefeierte US-Bestsellerautor Jonathan Franzen ein Loblied auf den Satiriker Karl Kraus an.

Von Joachim Leitner

Innsbruck –Mit historischen Analogien sollte man vorsichtig sein. Das weiß auch Jonathan Franzen. Und zieht sie trotzdem. Die in die Katastrophe taumelnde Donaumonarchie, die Karl Kraus in der Fackel oder den „Letzten Tagen der Menschheit“ heftig attackierte, erinnere ihn an die USA der Gegenwart, meint Franzen. Man müsse nur die damalige Medienwelt durch digitalisierte Meinungsmache und Wiener Charme durch amerikanische Coolness ersetzen. So viel analytischer Blindflug wird nur dem verziehen, der mit Bestsellern wie „Die Korrekturen“ (2001) oder „Freiheit“ (2010) seine Qualitäten als Zeitdiagnostiker bereits bewiesen hat. Grundsätzlich aber gilt: Man sollte Franzens Mut zur prosaischen Parallelverschiebung nicht allzu ernst nehmen, sein „Kraus-Projekt“ hat andere Stärken.

Wobei sich nicht alle schadlos von der vor gut einem Jahr erschienenen amerikanischen Originalausgabe in die dieser Tage vorgelegte deutsche Übertragung gerettet haben. In den USA ist Karl Kraus so gut wie unbekannt. Franzens Bemühen um den Autor, den er als Fullbright-Stipendiat Anfang der 1980er-Jahre in Berlin für sich entdeckte, ist also gewissermaßen Grundlagenarbeit. Diese Dimension des Projektes ging durch Kraus’ Rückführung in „seinen“ Kulturkreis notgedrungen verloren. Mit anderen Worten: Obwohl sich „Das Kraus-Projekt“ in Form und Inhalt kaum vom Original unterscheidet, ist es ein anderes Buch als „The Kraus-Project“.

Während es für amerikanische Leser darum ging, anhand zweier von Franzen ins Englische übersetzter Essays, „Heine und die Folgen“ und „Nestroy und die Nachwelt“, Karl Kraus’ spitze Feder zu entdecken, verschiebt sich der Fokus in der deutschen Ausgabe auf den umfangreichen Anmerkungsapparat, der sich durchaus als Erzählung in Fußnoten lesen lässt. Franzen schildert darin unterstützt vom amerikanischen Kraus-Forscher Paul Reitter und dem Romanautor Daniel Kehlmann nicht nur kenntnisreich den historischen Kontext der beiden Essays, sondern er nützt beide Texte auch als Sprungbrett für autobiografisch grundierte Betrachtungen gegenwärtiger Phänomene.

Dazu muss in Erinnerung gerufen werden, welcher Essays sich Franzen für sein Unterfangen bedient: „Heine und die Folgen“ ist Kraus’ böse Polemik gegen Heinrich Heine, den er als Ursache der „französischen Krankheit“ beschreibt. Gemeint ist damit jene Form eleganter Feuilleton-Schreibe, die – so jedenfalls die Kraus’sche Lesart – auf inhaltliche Auseinandersetzung zu Gunsten von Stilübungen verzichtet. Der Nestroy-Text ist der Versuch einer Ehrenrettung eines als Komödienschreiber verbrämten Satirikers erster Güte, in dessen Fluchtlinie sich auch Kraus selbst allzu gern verortete.

Auch Franzens Exegese folgt diesen zwei großen Stoßrichtungen: Es wird gelobt und geschimpft. Die Anmerkungen zum Heine-Essay verteufeln alles vermeintlich Beliebige – vom postmodernen Pastiche à la Thomas Pynchon bis zur digitalen Empörung in sozialen Netzwerken. Jene Passagen indessen, die „Nestroy und die Nachwelt“ weiterdenken, entpuppen sich als Loblieder auf jene Dichter und Denker, die sich zeitgeistigen Bedeutungsblasen bewusst entziehen und sich beharrlich weigern, den Kampf im Dienste der Wahrheit aufzugeben. Als Leser muss man dabei Franzens Sichtweise nicht unbedingt mittragen, um die narrative Brillanz dieses kleinen Romans in Fußnoten zu beklatschen. Eine Brillanz freilich, die man selbst zusammenbasteln muss, denn mühelos lesbar ist Franzens Montage aus Original und Anmerkung nicht. Aber das sind die Karl Kraus’ Essays auch nicht.

Essays Jonathan Franzen: Das Kraus Projekt. Übersetzt von Bettina Abarbanell, Rowohlt, 304 Seiten, 20,60 Euro.