Literatur

Weihnachtsmann in Flammen

© www.picturedesk.com

Claude Lévi-Strauss’ Aufsatzsammlung „Wir sind alle Kannibalen“ lädt zur Wiederentdeckung eines maßgeblichen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts ein.

Von Joachim Leitner

Innsbruck –„Bricolage“, Bastelei, nannte der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1908–2009) das Verfahren, mit dem sich Menschen die Welt erklären: Die durchaus fantasievolle Kombination von verschiedensten Bruchstücken, das Zusammenflicken von eigener Wahrnehmung und Überlieferung zu Geschichten, die dem Dasein einen Sinn geben. Methodisch war Lévi-Strauss selbst ein „Bricoleur“ erster Güte: Seine „strukturale Anthropologie“, die das auslöste, was man in den Geisteswissenschaften gern einen Paradigmenwechsel nennt, speiste sich aus Erkenntnissen der Linguistik genauso wie aus den Überlegungen von Marx und Freud. Daraus bastelte Lévi-Strauss ein Gedankengebäude, das später Strukturalismus genannt wurde – eine Bezeichnung, die er selbst, spätestens als der „Strukturalismus“ zu Kampfbegriff und populärer Denkschule wurde, als Mode ablehnte.

In seinen wegweisenden Werken „Das wilde Denken“ (1962) oder der vierbändigen „Mythologica“ (1964–1971), interessierten Lévi-Strauss, der als einer der ersten weit über den eurozentrischen Tellerrand blickte, vorrangig Konstellationen und Beziehungsgeflechte. Ordnungen und Muster, die über die exem­plarische Fallstudie hinausgingen. Dem allzu Eindeutigen misstraute er genauso wie dem allzu Empirischen und dem allzu Theoretischen.

„Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende“, so eröffnete er sein vielleicht schönstes Buch „Traurige Tropen“. Und bewies, dass auch Verachtung ein fruchtbarer Ausgangspunkt sein kann. Denn natürlich ist das Buch, eine beklemmende Schilderung der zerstörerischen Macht aller Zivilisation, auch ein Reisebericht. „Traurige Tropen“ machte Claude Lévi-Strauss 1955 beinahe über Nacht berühmt. Der Rolle des öffentlichen Intellektuellen, wie sie Jean Paul Sartre und Maurice Blanchot und wenig später auch Michel Foucault oder Roland Barthes spielten, verweigerte er sich allerdings. Politische Stellungnahmen gab er keine ab – zu Artikeln in Zeitschriften war er nur selten bereit.

Das wenigstens Letzteres schade ist, beweist der nun erschienene Band „Wir sind alle Kannibalen“, der im Kern 16 Beiträge versammelt, die Lévi-Strauss zwischen 1989 und 2000 für die italienische Tageszeitung La Reppublica verfasst hat. Eingeleitet aber wird das Buch vom Aufsatz „Der gemarterte Weihnachtsmann“, der bereits 1952 in Sartres Zeitschrift Les Temps modernes erschien. Ausgehend von der öffentlichen Verbrennung einer Santa-Claus-Figur im Dijon des Jahres 1951 und der diese Aktion begleitenden landesweiten Diskussion über die Profanisierung des christlichen Weihnachtsfestes analysiert Lévi-Strauss Weihnachten nicht als Fest einer Geburt, sondern als Fest der Überwindung des Todes. Schließlich liegt in der klassisch-christlichen Krippe ein Kind, dessen späteres Alleinstellungsmerkmal sein wird, dass es den Tod überwunden hat. In einer Zeit, in der der christliche Mythos – nicht zuletzt während zweier Weltkriege – Schaden genommen hat, werde diese Erzählung durch eine andere abgelöst. Kurz: Der Mensch bastelt sich neue Erzählungen für ein altes Problem. Wobei sich das, aus der Perspektive Gläubiger, heidnische Treiben als Glücksfall für den Forscher erweist: „Es kommt nicht alle Tage vor, daß der Ethnologe auf diese Weise Gelegenheit findet, in seiner eigenen Gesellschaft die plötzliche Entwicklung eines Ritus und sogar eines Kults zu beobachten“, schreibt Lévi-Strauss – und erteilt Fanatismus und voreiliger Empörung eine ungemein kluge und kenntnisreiche, eine nachgerade coole Absage.

Aufsätze Claude Lévi-Strauss: Wir sind alle Kannibalen. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Suhrkamp, 249 Seiten, 27.70 Euro.